„Skandale – Gift oder Salz in der Suppe“ – Deutsche Sporthochschule Köln, 14. April 2016

Meine Damen und Herren,

herzlichen Dank für die Einladung. Sie müssen sich was dabei gedacht haben. Meine sportliche Fitness kann’s nicht sein.
Wir sprechen gleich über „Skandal“ und „Skandalisierung“. Gift oder Salz in der Suppe der Gesellschaft? Es ist auf jeden Fall in aller Munde.

Wer morgens die Zeitung aufschlägt, muss tapfer sein.
– Ehrwürdige Institutionen wie Siemens, VW, Deutsche Bank stürzen durch Betrug ins Bodenlose.
– Prestigeprojekte wie Stuttgart 21, Berliner Flughafen, Elb-Philharmonie verkrümeln zur Lachnummer.
– Doktorarbeiten sind auch nicht mehr, was sie mal waren.
– Moralische Instanzen verelenden mit Missbrauch und Vertuschung.
– Presseskandale, Justizskandale, Finanzskandale.
– Sogar der Sport (Uli Hoeneß, Doping und FIFA) hat Leichen im Keller.
– Die Panama Papers entlarven Lichtgestalten als Dunkelmänner und internationale Eli-ten als parasitäre Existenzen: Briefkasten an Briefkasten mit Despoten, Drogenbossen und Waffenschiebern.
Wir stellen aber fest: Was die einen aufs Höchste erregt, lässt die anderen kalt. Wo die einen sagen „Das geht gar nicht!“, sagen die anderen „Es ist erlaubt und Usus.“

Offenbar reden wir über ein ziemlich unklares Phänomen. Wie ein Chamäleon wechselt es die Farbe, abhängig von Zeit, Ort, Beleuchtung und Interesse.

Man kann schwer sagen, was ein Skandal ist. Es ist leichter zu sagen, was er nicht ist. Der Begriff Skandalisieren würde bedeuten, dass man etwas zum Skandal machen kann, was eigentlich keiner ist.

Ich gestehe freimütig, in dieser Materie nicht ganz unerfahren zu sein. In einem früheren Leben war ich Wahlkämpfer. Man ringt im politischen Alltag um die bessere Lösung. Man will an die Schaltstellen der Macht. Da ist der Parteigegner zwar kein Feind, aber doch eher an der Peripherie der Nächstenliebe. Man freut sich klammheimlich, wenn er vom hohen Ross fällt. Man nimmt es ihm nicht übel, wenn er sich verstolpert. In schwachen Momenten ist sogar die Versuchung groß, ihm selbst ein Bein zu stellen.

Man kennt auch die Hebelwirkung der Medien und weiß, sie zu bedienen. Man will nicht wirklich Schaden stiften, aber ein wenig Spott oder Austricksen möchte wohl sein. Er oder sie täte es ja auch. – Wie sagte der Kanzler – der mit der „geistig-moralischen Wende“? „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“

Skandal
Sie wissen: Der Begriff Skandal stammt vom altgriechischen „skandalon“. So hieß das Stellhölzchen einer Tierfalle. Wird es berührt, schnappt sie zu.

Der Skandal ist die Störung einer scheinbar geregelten Realität. Er erregt sein Umfeld. Er stellt Ordnung in Frage. Er durchbricht den Gefühlshaushalt der Leute: Er zeigt dessen Brüchigkeit.

Oft ist er nur das „sogenannte Böse“. Das gehört zum Stoffwechsel der Gesellschaft. In jedem Fall ist er eng mit ihr verbunden. Je strenger die Regeln, desto größer die Irritation beim Regelverstoß. Der Skandal ist nicht nur ein Ereignis, sondern Methode, mit der sich die Gesellschaft ihrer selbst vergewissert.

Gerade in einer hochkomplexen Welt machen wir kaum Primärerfahrungen. Wir leben von Sekundärinformationen. Die erreichen uns nur mittelbar. Dazu brauchen wir Medien.

Die sollen uns ein realistisches Bild unserer Welt vermitteln. Sie spiegeln die Realität, sind aber Teil derselben. Sie sind auch Hohl- oder Zerrspiegel. Sie wählen aus. Sie blähen auf oder verdichten.

Der professionelle und verantwortliche Journalist kann enthüllen, aufklären, einordnen. Der Dilettant oder gewissensarme Profiteur vernebelt, demagogisiert, polarisiert und skandalisiert.

Ich beobachte zunehmend, dass der Hajo Friedrichs zugeschriebene Satz „Ein guter Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten“ im Selbstverständnis von Journalisten kaum noch eine Rolle spielt oder negiert wird. Intentionaler Journalismus verbreitet sich. Weniger informieren, mehr überzeugen. Es würde mich freuen, über meine Eindrücke und die gravierenden Folgen daraus mit Ihnen gleich diskutieren zu können.

Die sogenannten Neuen Medien sind für’s Skandalisieren wie gemacht. Jeder kleine Stammtischkrakeeler hat nun einen Weltsender zur Verfügung. Der „Volksempfänger“ ist in jeder Hosentasche, auf jedem Schreibtisch, in jedem Wohnzimmer.
In Sekundenschnelle entsteht gewaltige Öffentlichkeit. Anonyme können auf jeden und jedes schießen, was sichtbar wird. Aus der privaten Deckung heraus kann praktisch jeder einen Sturm entfesseln. Die Wirkung kann niemand steuern und nicht verantworten.

Das bürgerliche Gesetzbuch erschwerte mediale Vernichtungskämpfe. Persönlichkeitsrechte sind geschützt. Verleumdung ist teuer. Ein zivilisatorischer Fortschritt. Die Gesellschaft wurde erwachsen und vernünftig.

Das Internet infantilisiert sie wieder. Es erlaubt den Rückfall in die Anarchie. Skandalisieren ist nicht mehr harmloser Klatsch und Tratsch. Es ist – vom Mobbing über Shitstorm bis hin zur erbarmungslosen Treibjagd – gezielt instrumentalisierte Vernichtungsabsicht. Allgemeiner Frust hat ein Ventil und sucht sich beliebige Opfer.

Ein Satiriker hat kürzlich gezielt einen Skandal inszeniert und sich in den Mittelpunkt der Kont-roverse gerückt. Auch ein interessantes Thema für unsere Diskussion.

Wie entsteht ein Skandal und wie läuft er ab?
Vorhang auf!

Er braucht ein Milieu, einen Schauplatz, eine bestimmte Situation. Dann ein Ereignis und einen Hauptdarsteller. Günstig wäre ein „Promi“, besser noch eine selbsternannte moralische Autorität. Je größer die Fallhöhe, desto dramatischer und ergiebiger der Vorgang.

So geht es los: Die Presse eröffnet mit einer Schlagzeile. Sie weiß noch nicht viel oder zeigt noch nicht viel. Sie stellt erste bohrende Fragen. Das Publikum spürt eine gewisse Vibration, ist aber noch nicht sehr engagiert.
Ankläger und Verteidiger betreten die Bühne. Die Medien wachen insgesamt auf. Was der eine nur vermutet, hält der nächste schon für erwiesen.

Der Beklagte wehrt sich impulsiv, empört, ungeschützt. Er macht erste Fehler, streitet alles ab, fährt Hilfstruppen auf. Das steigert den Jagdeifer der Meute. Die sammelt scheinbare oder echte Fakten.
Das Publikum sitzt jetzt senkrecht vorn auf der Stuhlkante und schaut zu. Der Erregungszustand wächst. Auflage oder Einschaltquote steigen.

Der Beklagte gilt nun als Täter, jede Gegenwehr als Eingeständnis. Wer immer nur zugibt, was ihm gerade bewiesen wurde, ist nicht mehr Herr des Verfahrens. Er folgt widersprüchli-chen Ratschlägen, verliert immer mehr die Übersicht.
Auf allen Kanälen ist Dampf, besonders in der „Kanalisation“ der Boulevardpresse. Sie spielt sich als Tugendwächter auf. Das überspielt ihre eigenen unlauteren Methoden und Absichten.

Talkshows, Leserbriefe, Blogger überbieten sich. Auch am Gartenzaun, am Arbeitsplatz und in jeder Menschenansammlung ist der Skandal das Thema. Er wird zum Selbstläufer und im günstigsten Fall zur Projektionsfläche für alles, was man immer schon mal sagen wollte.

Der Fall Kachelmann steht dann für den Geschlechterkampf, die Affäre Wulff für das korrupte System der politischen Klasse bis in die höchsten Ämter. Bischof Tebartz van Elst gibt den moralischen Heuchler, Baron zu Guttenberg den notorischen Hochstapler.

Oft spielt der Zufall eine Rolle. Manchmal passiert ein Stimmungsumschwung. Es kommt zum Rollentausch von Kläger und Beklagtem. Man stellt erstaunt fest, wie empfindlich Ankläger sind, wie jammervoll sie sich zeigen können.
So oder so. Irgendwann kommt das Ende. Vielleicht wurden unhaltbare Zustände korrigiert oder die Sache verläuft im Sand, sie enthüllt sich als Farce, und man kann darüber lachen oder sie wird für den Protagonisten zur Katastrophe.
Die Karriere bricht ab. Er verliert Amt und Ansehen. Oft kann er nur noch untertauchen und innerlich erlöschen. Er versteht die Welt nicht mehr. Das Übermaß der öffentlichen Anschul-digung lässt ihm keine Chance, die tatsächliche persönliche Schuld wahrzunehmen.

Wurde die Sache gerichtsanhängig, fällt irgendwann ein Urteil. Die juristische Bilanz ist minimal. Medialer Freispruch ist aber unerwünscht. – Wer will schon ein Vorurteil loswerden oder unter einem schlechten Gewissen leiden! – Vorhang zu.

Vorläufige Erkenntnisse
Der Skandal ist ein Phänomen der Massengesellschaft. Für sie ist er ein Mittel der Selbstver-gewisserung. Er spiegelt nicht Überzeugungen und Kenntnisse, sondern seelische Zustände unterhalb der Bewusstseinsschwelle.
Es geht also nur zum Teil um Tatsachen. Ganz überwiegend um Meinungen, Anmutungen, Gefühle und Leidenschaften. Entscheidend sind Blickwinkel und Stimmungslage. Skandale sind mehrdeutig.
Es gibt einen Gewöhnungseffekt. Der ständige Erregungsmodus nutzt sich ab. Der Unterhaltungswert vergilbt. – Hinter der aufgeschäumten Fassade bleiben die wirklichen Skandale unbemerkt und folgenlos. Manche Pseudo-Skandale werden bewusst inszeniert, um von den echten abzulenken.
Skandale können die Verlogenheit einer Gesellschaft entlarven und so das reinigende Gewitter werden. Manche machten Geschichte: Die Halsband-Affäre. Die Dreyfus-Affäre. Die Spiegel-Affäre.
Offene Gesellschaft und liberale Gesetze machen Tabubrüche schwieriger. Aus Mangel an Tabus.
Skandale können eine Gesellschaft aufwecken und ihr den Spiegel vorhalten. Hemmungsloses Skandalisieren kann sie beschädigen und auf Dauer zerrütten. Ich nenne das die …

Malefiz-Gesellschaft
Das meistverkaufte Brettspiel in Deutschland war der Klassiker „Mensch ärgere dich nicht“. Man muss seine Figuren an einen sicheren Ort bringen. Es gibt so viel Orte wie Spieler. Unterwegs kann man rauswerfen oder rausgeworfen werden. Das ist ärgerlich, aber es liegt am Gedränge auf dem gemeinsamen Parcours. Und so ist halt das Leben.

Vor 25 Jahren verlor das Spiel seinen Spitzenplatz an ein anderes. Es heißt „Malefiz“. Auch dort muss man die eigene Figur ins Ziel bringen.

Gewinner wird aber nun, wer die anderen raffiniert und erfolgreich behindert. Die Barrikade, das Ausbremsen des Gegners sind das eigentliche Ziel.

Wir leben Elemente der Malefiz-Gesellschaft. Es scheint als könnten wir es uns leisten, jede Persönlichkeit, die eine wichtige Rolle übernimmt, wenn es passt zu demontieren. Blockade scheint ein Volkssport, auch wichtige Großprojekte zu verhindern.

Die USA machen es vor: Demokraten und Republikaner schicken sich gegenseitig in die Abseitsfalle. Was bei ruhiger Betrachtung von einer wohlmeinenden Mehrheit getragen werden könnte, wird blindwütig niedergemacht. Es braucht unnötig viel Zeit, geht kostenzehrende Umwege und verfehlt sogar den historischen Moment, in dem es überhaupt möglich war. – Das hat systemgefährdende Wirkungen:
– Immer weniger Bürger sind noch bereit, sich für bedeutende Projekte zu exponieren.
– Das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit ihrer Repräsentanten unterschreitet die erträgliche Linie.
Ich wage ein kleines Fazit:
Gezieltes Skandalisieren ist gemein und kriminell. Es macht wehrlose Menschen zu Opfern. Es zerstört ihren Lebensplan, ihr Umfeld, ihre Selbstgefühl. Manche treibt es in den Selbstmord. Es vergiftet auch den öffentlichen Diskurs. Eine Gesellschaft, die sich das gefallen lässt, gibt ihren Lumpen und Lügnern einen Selektionsvorteil.

Der Skandal ist eine menschliche Konstante

Er ist eine Form der Auseinandersetzung, aber auch des Zusammenlebens. Er gehört zur sozialen DNA unserer Spezies. Und zur kleinen Dämonologie des Alltags.

Man regt sich auf, aber endlich ist mal was los. Man empört sich über den Anderen und lenkt von sich selber ab. Was gestern Schlagzeilen machte, ist heute ein Schmarren. Das Phänomen selbst ist schillernd und unkaputtbar. Es scheint anzuwachsen. Es wechselt die Kulissen und Kostüme.
Das Stück ist immer das gleiche.

– Es ist das kleine Chaos inmitten der geordneten Gesellschaft.
– Es attackiert die vertrauten Gewohnheiten und belebt aber auch die Widerstandsfähigkeit des Organismus.
– Es ist somit auch ein Zeichen für die Lebendigkeit und Offenheit einer Kultur.

Diktaturen haben keine Skandale. Von Goethe können wir lernen: „Die Flöhe und die Wanzen / gehören mit zum Ganzen.“
Bevor Sie nun glauben, dass Sie einen Skandalkritiker vor sich haben, möchte ich quasi zur Eröffnung der Diskussion mit Ihnen aus meiner ganz persönlichen Lebenserfahrung berichten. Ich habe wie Wenige das Thema aus allen Perspektiven kennengelernt.

Ich danke Ihnen!

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