„Südosteuropa“ mit Dr. Hans-Peter Siebenhaar (Korrespondent Handelsblatt) – Uni Bonn, 13. April 2016

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie und unseren Gastreferenten, Herrn Dr. Hans-Peter Siebenhaar, Politologe und Korrespondent für das renommierte Handelsblatt. Schreibtisch in Wien. Verfasser sehr kluger und lesenswerter Reisebücher, ausgewiesener Medienexperte und Kenner Südosteuropas. Herzlich willkommen!

Der Balkan. Üblicherweise weiß man nicht viel. Aber eines weiß jeder. Er gilt als klassische Krisenregion.

Das Gebiet ist geografisch, kulturell und sprachlich schroff gegliedert. Schon die Römer hatten damit ihre Probleme. Jahrhundertelang war es die „Knautschzone“ zwischen Westeuropa und Byzanz, später des Osmanischen Reiches. Auf den Stabskarten der Großmächte war es Einfluss- und Aufmarschgebiet. Ethnische und soziale Gegensätze waren tickende Zeitbomben. Immer wieder kam es zu Grenzverschiebungen, Umsiedlungen und Vertreibungen. Die Staatsmacht wurde als Fremdherrschaft erlebt. Entsprechend schwach war die Loyalität der Einwohner.
„Balkanische Zustände“. Das wurde zur vorurteilsfröhlichen Metapher für: emotional, korrupt, zersplittert, chaotisch, gewalttätig, brutal. Man sah hier den unzivilisierten Vorhof des Kontinents. Bismarck wollte dafür nicht „die Knochen eines einzigen preußischen Grenadiers“ opfern, und noch Churchill sprach von „Europas weichem Unterleib“.

Heute reden wir politisch korrekt von „Südosteuropa“. Das klingt wertneutral. Eine Initiative der Europäischen Union von 1999 hat den Namen „Stabilitätspakt für Südosteuropa.“ – Ich sollte das im Auftrag der internationalen Gemeinschaft (G9, NATO, OSZE, OECD und EUZ) koordinieren. Das war das breiteste jemals vergebene diplomatische Mandat. Es galt unter anderem dem amerikanischen Präsidenten Clinton, der an der Wiege des Paktes in Sarajevo saß, um dem russischen Präsidenten zu rapportieren. Eine ehrenvolle, schwierige, aber durchaus nicht ganz unerfolgreiche Aufgabenstellung. Ich habe damals öffentlich gestöhnt: „Mein Balkan ist in Brüssel!“ In Südosteuropa waren die Aufbruchstimmung und auch die Bereitschaft für Reformen groß. Das verharscht bürokratische und unehrliche Brüsseler Routinesystem konnte deutlich weniger Hilfe gewähren, als es vorgab und der Welt vormachte.
Als ich in den Hauptstädten Südosteuropas meine Antrittsbesuche machte, erklärten mir Ministerpräsidenten, sie würden ihre Nachbarn nicht kennen und hätten auch keine Lust, sie kennenzulernen.

Es war die damals zu meinem Instrumentenkasten gehörende Konditionalität („Tut Ihr das, tun wir das.“ – „Helft Ihr Euch selbst, helfen wir Euch.“ – „Arbeitet Ihr grenzüberschreitend, so finanzieren wir das.“), die gute Lösungen brachte.
Die ursprüngliche Abneigung gegen grenzüberschreitende Kooperation war nach dem letzten Krieg erklärlich. Die Wunden waren kaum vernarbt, noch längst nicht verheilt. – Dabei hatte es auch schon bessere Zeiten gegeben. Der österreichische Weltbürger Stefan Zweig konnte noch sagen: „Ich konnte vom Schwarzen Meer bis Amerika reisen, ohne meinen Pass vorzeigen zu müssen.“ – Das war vor dem 1. Weltkrieg.

Tatsächlich gab es lange Phasen, in denen Muslime und orthodoxe oder katholische Christen, Albaner, Kosovaren, Bosniaken oder Serben friedlich Tür an Tür lebten. Religiöse Gegensätze spielten eine viel geringere Rolle als man uns in Westeuropa glauben machte. Das kommunistische System hatte hier die Säkularisierung der Gesellschaft viel weiter getrieben als etwa in der DDR.

Die tieferen Ursachen für den Krisenherd Balkan lagen nicht im Lande selbst, sondern waren das Resultat der Territorialpolitik europäischer Großmächte und der Türkei.

Seitdem die Türken 1683 vor Wien gescheitert waren, wurden sie von der k.u.k. Monarchie zurückgedrängt. Habsburg verstand sich als „Vielvölkerstaat“ und kaschierte damit sehr robuste imperiale Interessen. Im Nord-Osten verstärkte das russische Zarenreich den Druck. Moskau sah sich als das Dritte Rom und nutzte die Schwäche Istanbuls, um seinen Einfluss auszuweiten. Dabei spielte der Zugang zum Mittelmeer eine wichtige Rolle.

Im machtpolitischen Schachspiel des 19. Jahrhunderts ging es um Territorien. Die Völker wurden nicht gefragt. Sie begannen aber Ideen aufzugreifen, die sich auch in Westeuropa immer stärker artikulierten. Nationales Selbstbewusstsein spaltete die Gesellschaft. Es war wie Pubertät. Man weiß nicht genau, wer man ist. Also definiert man sich über die Abgrenzung vom alten Regime und von den benachbarten Völkern. Jede junge Nation in Südosteuropa hatte einen „großen Bruder“ draußen. Mit dem machte man alles, mit dem stimmte man sich ab. Mit den Nachbarn wollte man nichts zu tun haben. Gegen die grenzte man sich ab.

Auf dem Balkan versuchten die Serben, ein Großreich zu errichten. Nationalisten kultivierten die Erinnerung an historische Wunden wie die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389. Sie entdeckten den Kosovo als das „Herz“ der serbischen Kultur. Dort waren inzwischen 90 % der Bewohner muslimische Albaner. Ein missverstandener Darwinismus brachte rassistische Ideen ins Spiel. Der Panslawismus wurde ideologischer Überbau für Großmachtträume und ein „natürliches“ Bündnis zwischen Serbien und Russland.

1914 war das Pulverfass gefüllt. Den Zündfunken lieferte das Attentat von Sarajevo eines serbischen Fanatikers auf den österreichischen Thronfolger. Die Europäische Friedensordnung brach kaskadenartig zusammen. Der 1. Weltkrieg wurde zur Ur-Katastrophe. In einer mörderischen Kettenreaktion erzeugte er die meisten Kriege, Diktaturen und Verfallsprozesse des nächsten Jahrhunderts.

Im Zweiten Weltkrieg wollten britische Truppen auf dem Balkan eine zweite Front gegen die Achsenmächte eröffnen. Das misslang und gab Stalin die Chance, die meisten Staaten der Sowjetunion einzuverleiben. Nur Albanien und Jugoslawien gingen einen relativ unabhängigen, aber auch kommunistischen Weg. 36 Jahre hielt Tito die sechs Republiken Jugoslawiens mit der Faust zusammen. Auch nach seinem Tod 1980 blieb das Land unter kommunistischer Kontrolle.
1987 brachen Spannungen im Kosovo auf. Der albanische Teil der Bevölkerung stand unter wachsendem serbischem Druck. Die serbische Propaganda behauptete es umgekehrt. 1991 begann der Krieg. Im Friedensvertrag von Dayton 1995 wurde Bosnien-Herzegowina aufgeteilt. Serbien reagierte mit ethnischen Säuberungen. Vier Millionen Menschen wurden vertrieben, um die Fiktion eines homogenen Nationalstaats zu realisieren. Der Bürgerkrieg zerstörte Städte und Dörfer und forderte 100.000 Menschenleben.

Er veränderte noch einmal die politische Landkarte. Heute teilen sich folgende Staaten die Region: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Griechenland, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Rumänien, Serbien und Ungarn. Davon sind Bulgarien, Griechenland, Kroatien, Rumänien und Ungarn Mitglieder der EU.

22 Jahre nach dem Bürgerkrieg sucht die junge Generation eine moderne Zukunft für die Region. Sie betont die gemeinsamen Wurzeln der Völker. Sie will offene Grenzen und hofft auf den Anschluss an Europa. Eine supranationale Struktur kann die lokalen Gegensätze überbrücken.

Es gibt Ansätze regionaler Zusammenarbeit. Sie kann den Versöhnungsprozess fördern. Ökonomische Interessen brauchen friedliche und planbare Verhältnisse. Der Tourismus wäre ein wichtiger Faktor, der auch die inneren Spannungen nivelliert.
Dagegen steht ein wieder anwachsender Nationalismus und Tribalismus. Eine dramatische Wirtschaftsschwäche befördert das, schafft Enttäuschung und Verbitterung. Europa erscheint nicht mehr allen als Erfolgsmodell. Die Flüchtlingskrise weckt uralten Fremdenhass. Wo die Türkenherrschaft fast sechs Jahrhunderte als islamische Despotie erlebt wurde, will man keine muslimischen Einwanderer. – Europäische Solidarität, auch in den Schon-Mitgliedern, ist ein Fremdwort.
Was noch?

Stichwort: Korruption. Die junge politische Klasse hat zum Teil in Westeuropa und den USA gelernt. Mancher Heimkehrer entdeckt, dass er immer noch nicht reich ist und will diesen Fehler möglichst rasch beheben. Verantwortung für das Gemeinwohl gilt als Schwäche. Vereinzelt steuern Staatsanwälte dagegen, müssen dann aber um die eigene Karriere fürchten.

Stichwort: Politische Kultur. Das demokratische System ist jung und ungefestigt. Ämter werden nicht selten als persönlicher Besitz empfunden. Das Parteienspektrum hat eine schwache Mitte. Entsprechend dramatisch vollziehen sich Wahlkampf und Machtwechsel. Unabhängige und kritische Medien gelten der politischen und ökonomischen Elite meist als störend und gar gefährlich. Der Versuch, sie an die Kandare zu legen, verbreitet sich immer mehr.

Stichwort: Vergangenheit. Es fehlt an der Bereitschaft, die düstere Geschichte aufzuarbeiten. Jeder fühlt sich als Opfer. Keiner als Täter. Die Unzufriedenen und Benachteiligten sammeln sich in Parteien des nationalistischen Ressentiments, zum Teil mit faschistisch-extremen Varianten.

Wohin geht die Reise? Findet Südosteuropa zu mehr Stabilität, oder taumelt es in neue Krisen. Die dann auch wieder nach Europa ausstrahlen. Moskau spitzt sehr aufmerksam die Ohren. Ist die EU noch stark genug, um die schwachen Balkanstaaten vor sich selbst zu schützen und ihnen eine erstrebenswerte wirtschaftliche ökonomische und demokratische Perspektive zu bieten? Oder muss sich die Gemeinschaft hüten, die alten Zeitbomben ins alte Europa zu holen? – Wenn sie sie schon nicht entschärfen kann oder will.

Herr Dr. Siebenhaar. Mehr Zeit will ich Ihnen nicht stehlen. Sie haben das Wort!

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