„Die Flüchtlingskrise – ein hausgemachtes Missverständnis?“ – Bonner Generalanzeiger, 27. Februar 2016

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27.02.2016

Die Flüchtlingskrise – ein hausgemachtes Missverständnis?
Von Bodo Hombach

 

„Zorn“ wäre das richtige Wort, aber der höfliche Zeitgenosse nennt es nur „erstaunlich“, wie unbedarft und hilflos hochrangige Politiker untereinander und mit der Öffentlichkeit kommunizieren. Sie ignorieren elementare Regeln, gegen die man nicht ungestraft verstoßen darf. Und so erzeugen sie – hoffentlich wenigstens unbeabsichtigt – Missverständnisse, die sich dann in reale und zuweilen katastrophale Politik verwandeln.

Eine dieser Regeln heißt: Man muss die logisch unterschiedlichen Bereiche auseinander halten. Wer sie verwechselt oder verwischt, ist schnell in der Sackgasse. Anstatt alte Probleme zu lösen, produziert er neue.

Ein aktuelles und höchst brisantes Beispiel für fehlerhafte Kommunikation ist die Flüchtlingskrise. Auch hier werden ständig zwei Bereiche vermischt, die nichts miteinander zu tun haben: Das Asylrecht und das Einwanderungsrecht. Beim Asyl geht es für Bewerber und Gastgeber um eine unausweichliche Zwangslage. Der Flüchtling muss sein und das Leben seiner Familie retten. Der Gastgeber muss ihn aus ethischen Gründen aufnehmen. Zuwiderhandeln wäre Selbstaufgabe. – Anders bei der Einwanderung. Sie ist ihrer Natur nach freiwillig. Der Antragsteller ist nicht unmittelbar in seinem Menschenrecht bedroht. Er will eine Veränderung seiner sozialen oder wirtschaftlichen Situation. Auch das Land seiner Wahl entscheidet frei. Es kann Bedingungen stellen oder die Aufnahme einfach verweigern.

Wenn das Haus meines Nachbarn brennt, bin ich verpflichtet, ihm beim Löschen zu helfen und ihn in höchster Gefahr bei mir aufzunehmen. Das bedeutet Einschränkungen, aber auch interessante Begegnungen und Erfahrungen. Ich mache ihm seinen Aufenthalt möglichst angenehm, und er respektiert meine Traditionen und Spielregeln. Wir reden miteinander, lernen uns kennen. Unser Horizont erweitert sich. Beide Seiten haben etwas davon. Gastfreundschaft ist eine der wichtigsten Errungenschaften menschlicher Zivilisation. In allen Kulturen gilt sie als heilig.

Klar ist aber auch: Ist der Brand gelöscht und die Gefahr vorüber, muss er mein Haus wieder verlassen. Dann soll er ja auch das seinige wieder aufbauen. Der Abschied tut vielleicht weh, denn wir haben uns inzwischen angefreundet, aber die Freundschaft kann ja auch fortbestehen. Und vielleicht brennt schon ein anderes Haus in der Stadt… – Irgendwann kommen wir Bürger auf die Idee, den Brandschutz zu verbessern und die Feuerwehr neu zu organisieren. Vielleicht lernen wir es sogar, notorische Pyromanen und Brandstifter frühzeitig zu erkennen und in einen Käfig zu stecken.

Ob ein Haus brennt oder ein ganzes Land, ist nicht entscheidend. Auch ein Flüchtling, der vor Krieg und Verfolgung flieht und an das deutsche Asylrecht appelliert, sucht Schutz vor unmittelbarer Gefahr. Es geht um sein Menschenrecht auf Leben, und da sich Deutschland dazu bedingungslos bekennt, hat er das Recht, Asyl zu beantragen. Diesen Status hat er jedoch nur so lange, wie die Voraussetzungen und Gründe existieren. Wenn die Fluchtursachen verschwinden, muss er selbstverständlich wieder in sein Heimatland zurück.

Die Rechtslage ist eindeutig: Sobald der Fluchtgrund entfällt – also wieder Frieden herrscht oder eine Verfolgung nicht mehr besteht – ist ein Flüchtling kein Flüchtling mehr. Der Schutzstatus wird widerrufen. Er muss in sein Heimatland zurück. Dort wird er ja auch dringend gebraucht. Wie soll es je wieder auf die Beine kommen, wenn alle Flüchtlinge im Ausland bleiben!

Etwas völlig anderes ist ein Ausländer, der – aus welchen Gründen auch immer – nach Deutschland einreisen will, um hier dauerhaft zu leben. Er hat keinen Rechtsanspruch. Er muss sich bei der zuständigen Behörde in die Schlange stellen, und über seinen Antrag wird so oder so entschieden.

Auch ein Asylant, der heimreisen muss, weil es dort wieder friedlich ist, kann im Gastland bleiben wollen. Dann ist er jedoch Einwanderer und unterliegt den dafür geltenden Regeln. Vielleicht hat er gute Karten, weil er inzwischen Sprachkenntnisse erworben hat oder als Fachkraft benötigt wird.

So weit so klar. Wie kann es sein, fragt sich der denkende Zeitgenosse, dass daraus ein irrationaler Streit erwächst mit brennenden Asylheimen und schäumenden Hass- und Hetzkampagnen? Eine Erklärung wäre: Der Hass war schon vorher vorhanden. Er brauchte nur einen Anlass, um loszubrechen und ein Medium, um sich endemisch zu verbreiten. Eine andere Erklärung wäre: Das Thema wurde nicht sachgemäß kommuniziert. Es konnte der absurde Eindruck entstehen, jeder Mensch, der deutschen Boden betritt, sei damit für alle Zeit deutscher Staatsbürger.

Ein hausgemachtes Missverständnis. Vielleicht auch gewollt. Im künstlich erzeugten Nebel haben die politischen Parteien willkommene Möglichkeiten, ihre Konkurrenten an den Pranger zu nageln. Wem der humane Rechtsstaat schon lange lästig ist, der kann nun die Asylgesetze verschlechtern und den Überwachungsstaat betreiben. Wer die europäische Einigung entbehrlich findet, kann nun enthemmt auf nationale Abschottung setzen. Und die verbreitete Xenophobie der Massen findet alle Vorwände, die sie braucht, um ihr Vorurteil als vernünftig hinzustellen.
Auch die vielen ehrenamtlichen Helfer, die mit bewundernswertem Engagement in den Auffanglagern arbeiten, beginnen, an sich selbst zu zweifeln. Sie können nicht für immer als Reservearmee der Sozialämter fungieren. Aufgrund ständiger Überforderung, werden sie bald schon aufgeben und dann ein schlechtes Gewissen haben. Deutschland wird nicht akzeptieren, ungefragt und für immer ein „anderes“ Land zu sein. Das als aussichtslos dargestellte Problem spaltet die Gesellschaft. Es korrodiert den ethischen Grundkonsens. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie erscheinen als Illusion. Die politischen Entscheidungsträger verlieren Legitimation und Autorität. Parteien mit „völkischem“ Wahn und rassistischen Ressentiments sammeln die Trümmer ein.

Natürlich ist es eine gewaltige Aufgabe, die Berechtigten in so großer und plötzlicher Menge zu versorgen. Da der Syrienkonflikt vielleicht noch Jahre dauert, wäre es auch vernünftig, dass die Gäste Deutsch lernen und arbeiten dürfen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Und ganz gewiss müsste man Einzelne, die das Gastrecht durch kriminelles Verhalten missbrauchen, nach den hiesigen Gesetzen verurteilen und abschieben. Alle hätten jedoch wissen können: Es gibt keinen Anspruch auf fortdauernden Aufenthalt, wenn der Asylgrund erloschen ist. Man muss einen Ertrinkenden aus dem Wasser ziehen. Man muss ihn aber nicht gleich adoptieren.

Eine so klar verkündete Befristung des Problems hätte alle guten Kräfte gebündelt und den bösen viel Wind aus dem Segel genommen. Aus diffusen Ängsten hätte es eine quantisierte Aufgabe gemacht, nämlich die organisatorische Bewältigung der Mengen, ihre akute Versorgung, bei freundlichem Empfang.

Angela Merkel kann nüchtern denken. Schon in Rostock hat sie dem weinenden Mädchen erklärt, dass Deutschland nicht alles Elend der Welt für alle Zeit aufnehmen könne. Als aber im Mittelmeer immer mehr Menschen ertranken und Hunderttausende vor dem ungarischen Stacheldraht strandeten, hat sie das Gebotene getan: Leben retten. Und sie hat den Deutschen zugetraut, diese Aufgabe zu schaffen. Leider versäumte sie, in aller Klarheit und immer wieder darauf hinzuweisen, dass die spontane Hilfsbereitschaft nur so lange gilt, wie die Not besteht. – Erst seit kurzem versucht sie, diesen Fehler zu korrigieren: „Wir erwarten, dass, wenn wieder Frieden in Syrien ist und wenn der IS im Irak besiegt ist, dass ihr auch wieder, mit dem Wissen, was ihr jetzt bei uns bekommen habt, in eure Heimat zurückgeht. (Landesparteitag der CDU in Mecklenburg-Vorpommern). „Erwarten“ reicht nicht aus und entspricht nicht der Rechtslage.
Zu spät? – Nun wird sie es schwer haben, das massenhafte Missverständnis aufzulösen. Zu Viele kochen inzwischen auf diesem Feuer ihr Süppchen.

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