„Schöne neue Medienwelt? Zur Zukunft der Medien in Deutschland“ – BAPP, 2. Dezember 2015

Wertgeschätzte Frau Leopold,
Wertgeschätzter Herren Anda, Buhrow, Dr. Kissler,
sehr verehrte Damen und Herren,

die Erfindung des Briefkastens nannte Sigismund von Radecki in einem klugen Essay die „epochale Wende der Kommunikation“. Ein Blechkasten beendete Jahrtausende alten Zwang. Bis dahin galt es, Auge in Auge, mit offenem Visier und Klarnamen zu kommunizieren. Das war riskant. Man musste mit Gegenwehr rechnen. Nun konnte man gröbste Gemeinheiten, Verleumdungen, Drohungen anonym vom Briefträger überbringen lassen. Man konnte sie als Postwurfsendung sogar weit verbreiten.

Von der Kanzel oder der Rathaustreppe wurde schon immer gelogen. Jetzt konnte jeder seine geistigen oder ungeistigen Ausscheidungen in der Öffentlichkeit abladen. Mit größerer Öffentlichkeit war auch größere Anonymität möglich. Ein Paradox: Scheint es doch, die Mediengesellschaft ziehe alles und jeden ins Licht und ins Blickfeld aller.

Heute sieht man den Briefkasten seltener. Er ist als Smartphone und Tablet in fast jeder Hand. Das ist ubiquitäres Einfallstor der ganzen Welt in den Privatbereich. Es ist gleichzeitig Ausfallstor für beliebige Mitteilungen – auch von Demagogen, Skandalierern und Kriminellen.

Digitale Medien machen uns glauben, unmittelbar Zeuge weit entfernter Ereignisse zu sein. Die ganze Welt ist ungefilterte Nähe. Grenzüberschreitungen: geografische, ständische und kulturelle sind systemisch. Auch solche des Anstands, der Höflichkeit, des Respekts.

Informationen, Einsichten, Meinungen und auch Gemeinheiten sind sofort „auf Sendung“. Sie projizieren sich auf eine globale Fläche und versuchen ungezügelte Aufmerksamkeit zu provozieren. Oft wird Politik in die Pseudo-Dramatik reingemischt. Sie glaubt, sie müsse eiligst reagieren, um in der Schlichtform der Schlagzeilen nicht zu fehlen.

Es gab Zeiten, da brauchte es die Presse als Waffe des Bürgers gegen den Obrigkeitsstaat. Es galt, Herrschaftswissen zu demokratisieren. Medien sollen unterdrückte Informationen ans Licht bringen. Das diszipliniert Macht und Mächtige. Deren Kontrolle ist konstitutiv für die Demokratie. Der kategorische Imperativ der Mediengesellschaft lautet: „Was ist, wenn es rauskommt?“

Aber genauso wichtig: Es braucht verantwortlich handelnde Presse, um das „nichtige All“ – das anarchische Chaos – digitaler Kommunikation zu domestizieren.

Die Sorgfalt der Recherche wird durch Beschleunigung beschädigt. Ständige Erregungszustände stören das abgewogene Urteil.

Für mich war der Hajo Friedrichs zugeschriebene Grundsatz „Ein Journalist macht sich mit keiner Sache gemein…“ das tröstliche Versprechen, nicht manipuliert werden zu sollen.

Wer diesen Grundsatz bewusst aufgibt, will eine andere Presse. Der intentionale Journalismus gibt sich selbst ein Mandat. Für mich wäre es analog zur Lebensmittelkennzeichnung fair, wenn dieser offen angäbe, was drin ist und was er will.

• Die Medien sollen durch Sekundärinformationen ergänzen, was uns als Primärerfahrung nicht zugänglich ist.
• Sie sind die Voraussetzung für Transparenz und Teilhabe.
• Sie sollen uns anhand überprüfbarer Kategorien helfen, Relevantes vom Unwichtigen zu unterscheiden.
• Sie sollen unseren Eindruck von der Welt an Realitäten und Aufklärung orientieren.
• Nicht zuletzt ermöglichen sie ein sinnvolles Kreuzchen auf dem Wahlzettel.
Leisten Medien heute, was wir von ihnen erwarten? Medien sind zu wichtig, um sie sich selbst zu überlassen.
Sie sollen bestehen:
• gegen den scheinbar unausweichlichen Zwang der Ökonomisierung und totalen Klickzahlen-Währung,
• gegen Unterwerfung unter Lobbyismus und Werbung,
• gegen die Verlockung, selbst als Akteur aufzutreten, anstatt möglichst objektiv zu berichten.

Die neue Technik erlaubt eine ungeheure Diversifizierung des Angebots, bei vergleichbarer Lebenszeit der Konsumenten. Die Presse sieht sich als „Spiegel der Gesellschaft“. Da sie sich selbst nicht ausreichend befragt, muss man sie fragen:
• Was holt dieser Spiegel in den Fokus und was blendet er aus?
• Gibt er uns ein klares Bild oder ist es verzerrt, verschwommen mit blinden Flecken?
• Wer hat ihn in der Hand? Welche Interessen steuern ihn?

Die Technik ist unschuldig. Sie hat die naive Chuzpe einer Naturgewalt. Sie wartet nicht auf Parlaments- oder Parteitagsbeschlüsse. Nicht einmal in China.

Wer das Tablet in der Hand hat, hat die Wahl: Er kann es zum Taumelflug durch bunte Albernheiten der Klick-Welten nutzen, oder auch als Erkenntnisinstrument für Teilhabe und Orientierung.

Der Zustand einer Zivilisation erweist sich an den Bildern und Worten – an den Zeichen also – mit denen sie Wirklichkeit erfasst. Nichts ist dabei wichtiger als die Rolle der Medien. Sie sind ihre Sprache. Das Mittel der Verständigung. Und das ihrer Missverständnisse.

„Schöne neue Medienwelt.“ Das klingt wie ein süßer Fliegenfänger. Aber für die Fliegen geht es um Leben oder Tod.

Ich freue mich, dass diese Begegnung zustande gekommen ist. Ich danke allen, die dafür gedacht und gearbeitet haben.

Vortragspult und Podium sind gleich hochrangig besetzt. Wir dürfen unbescheiden sein und auf einen beträchtlichen Zuwachs an Erkenntnis hoffen. In zwei Stunden werden wir klüger sein, als wir jetzt sind. Dafür vorauseilenden Dank.

Nun freue ich mich mit Ihnen auf den Intendanten des Westdeutschen Rundfunks, Herrn Tom Buhrow. Herzlich willkommen!

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