„Integration durch Religion – Perspektiven des christlich-islamischen Dialogs“ – BAPP, 1. Dezember 2015
Meine Damen und Herren,
als wir diese Veranstaltung planten, konnte niemand wissen, wie akut und bedeutsam sie uns heute erscheinen muss. Dabei bin ich ganz und gar nicht der Meinung, der christlich-muslimische Dialog sei nur im Krisenmodus sinnvoll und nötig. Im Gegenteil: Ereignisse wie die in Paris oder in Mali haben mit der Weltreligion des Islam nichts zu tun. Warum sollten Mörder, die in eine Konzerthalle eindringen und wahllos unschuldige Menschen abschlachten, warum sollten sie Skrupel haben, sich dabei auch noch auf eine Religion – auf irgendeine – zu berufen?
Es ist also abwegig, solche Ereignisse zum Anlass für einen interreligiösen Dialog zu nehmen. Als hätte ein solcher sie verhindern können. Sie erhellen nichts. Sie verdunkeln alles. Elias Canetti schrieb einmal: „Ein toter Gegner beweist nichts als seinen Tod.“
Was ist Dialog?
Es ist die Begegnung von Menschen in einem gemeinsamen virtuellen Raum. Sie haben einander entdeckt. Sie wissen, dass sie einander brauchen und gemeinsame Interessen haben. Sie wollen einander kennenlernen und verstehen. Deshalb ist die wichtigste Leistung nicht der Vortrag ihrer Argumente, sondern ihre Fähigkeit und Bereitschaft, sich in den anderen zu versetzen und sich selbst einmal mit seinen Augen zu betrachten.
Was ist Religiosität?
Unser Großhirn befreit uns – zum Teil – aus der starren Steuerung durch Instinkte. Das ermöglicht und zwingt uns, die Welt und unsere Rolle darin zu be-denken. Nur der Mensch stellt sich die vier elementaren Fragen: Wo komme ich her? Wohin gehe ich? Wer bin ich überhaupt und was soll ich tun? Die Antworten, die er darauf findet, gehören zu seiner Identität und geben seinem Leben einen Sinn. Sie unterscheiden sich von Mensch zu Mensch und verändern sich mit seinem Alter, seiner Umgebung und seinen Erfahrungen. Aber sie haben auch Gemeinsamkeiten.
Der ungeheure Zuwachs an Freiheit und die unausweichliche Suche nach der „Wahrheit über sich selbst“ wecken die Sorge, sich zu irren und zu verirren. Deshalb binden sich Menschen an eine höhere Ordnung oder Autorität. Sie glauben an deren Anwesenheit und Wirkung in der Geschichte. Angesichts des Bösen in der Welt hoffen sie auf oder fürchten eine ausgleichende Gerechtigkeit und ein Fortleben nach ihrem Tod.
Was ist Religion?
Darüber gibt es viele Meinungen. Ein Agnostiker wie ich wird sagen: Religionen sind Kulturleistungen des Menschen. Sie artikulieren seine Fragen und bieten dafür mögliche Antworten, Antworten, die den Rand seiner Existenz überragen. Das organisieren sie in Fest-Gemeinschaften mit kollektiver Erinnerung und in Formen, die sich an klimatischen, geografischen, ethnischen und historischen Bedingungen orientieren.
Religionen können ihre Anhänger be-geistern, trösten, stärken und ihnen helfen Teufelskreise zu überwinden. Problematisch werden sie, wenn sie für sich einen absoluten Wahrheitsanspruch reklamieren und ihn durch Machtmittel und Gewalt durchsetzen wollen, sei es gegen Abweichler in den eigenen Reihen oder gegen andere Religionen. Das führt zu gefährlichen Konflikten, besonders dann, wenn sie sich auf einen göttlichen Auftrag berufen. – Die Geschichtsbücher sind voll davon.
In Europa setzte sich über einen langen und opferreichen Prozess die Vorstellung durch, dass verschiedene Religionen und Konfessionen nebeneinander existieren dürfen. Die Aufklärung erfand den säkularen und weltanschaulich neutralen Staat. Zugleich definierte sie die freie Wahl des religiösen Bekenntnisses als Menschenrecht. Gegen den Willen der Religionen befreite er sie zu sich selbst.
Die Religionen behaupten gern, der Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht geschaffen habe. Wenn dem so ist, dann gilt auch: Die Religionen leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht geschaffen haben. Erst der Staat garantiert ihnen nämlich den Raum, in dem sie sich entfalten können. Er wird nur begrenzt durch die Freiheit der anderen, auch derjenigen, die sich keiner religiösen Gemeinschaft anschließen mögen.
Im säkularen Staat dürfen Religionsgemeinschaften ihre Traditionen pflegen und öffentlich darstellen. Allerdings nur so weit sie nicht gegen die geltenden Rechtsnormen verstoßen.
Hier ist niemand, dem ich damit Neues zu sagen hätte. Ich trage diese Grundätze auch nur vor, um mich ihrer selbst noch einmal zu vergewissern.
Warum also lohnt sich ein interreligiöser Dialog? Es gibt dafür viele gute Gründe. Ich nenne zwei:
Der erste ist die Freude an der Erkenntnis. Religionen sind zum Teil sehr alt. Sie begleiten ganze Völker oder große Menschengruppen durch die Jahrhunderte. Sie sammeln ihre Erfahrungen und Geschichten. Sie erinnern sich bedeutender Persönlichkeiten. Sie feiern im Jahreskreis ihre Feste und trauern über Schuld, Niederlage und Verirrung. Sie bringen Gedanken, Texte, Musik, Tanz, Bauten und Bilder hervor, die das große imaginäre Museum der Menschheit mit Spitzenwerken bereichern. Manche davon wurzeln in den tiefsten Schichten der menschlichen Psyche und bieten jeder Generation neue Möglichkeiten, sich darin zu erkennen.
Selbstverständlich gehört der Islam zur Kulturgeschichte Europas. Wer nicht blind und dumm durch sein Leben rennen will, sollte sich über diese Geschichte und die religiöse Welt der muslimischen Mitbürger informieren. Das ist nicht gratis zu haben. Es kostet Zeit, manchmal Mühe, immer Geduld und – das Schwierigste überhaupt: eine Bereitschaft, den eigenen Standpunkt in Frage zu stellen. – Es lohnt sich in jedem Fall.
Das Unvertraute wird immer zugleich als Faszinosum und Bedrohung empfunden. Missverständnisse bleiben nicht aus, wenn die ethischen Standards aller Religionen (Respekt vor dem Leben, Gastfreundschaft, Gewaltlosigkeit) von den „schlechten Gewohnheiten“ der Tradition, der Vorurteile und der Machtinteressen überlagert werden.
Ein zweiter Grund für den interreligiösen Dialog ist daher die Verantwortung der Religionen für die Menschen, die sich ihnen anvertrauen und für die Gesellschaft, in denen sie sich betätigen. Es ist von entscheidender Bedeutung, ob sie das allgemeine Wohl fördern, oder ihm im Weg stehen.
Religionen und ihre Freunde müssen sich zu Wort melden, wo ungerechte Verhältnisse herrschen, Freiheit beschnitten und Entfaltung behindert wird. Sie müssen Widerstand leisten, wo die Menschenwürde bedroht ist, wo Scharfmacher die Mikrofone erobern, Minderheiten verfolgen, oder auf kriegerische Konflikte setzen. Das heißt auch: Die Gesellschaft braucht das konsequente „Nein!“ der Religionen, wenn sich Machtmissbrauch und verbrecherisches Regierungshandeln mit pseudoreligiösen Begründungen legitimieren will.
Der moderne Staat ist ohne Internationalität nicht denkbar. Die enorm gewachsene Mobilität macht Kulturen zu Nachbarn, die sich in früheren Jahrhunderten kaum berühren konnten. Toleranz und Akzeptanz, die Wertschätzung des jeweils Anderen, sind deshalb wichtige Voraussetzungen für eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft.
Es klingt noch utopisch, aber ich halte sämtliche Religionsgemeinschaften, die sich nicht selbst verraten wollen, für natürliche Verbündete. Wenn z. B. der Islam unter Generalverdacht gestellt wird, weil ihn einzelne Fanatiker für ihre abartigen Zwecke missbrauchen, dann sollten dem die christlichen Kirchen entgegentreten. Wie ja auch schon durch einzelne Repräsentanten geschieht.
Dies alles funktioniert nur, wenn man sich gegenseitig kennt und mit neugierigem Respekt begegnet. Es braucht den Dialog. Nicht als singuläre Pflichtübung aus gegebenem Anlass, sondern als Haltung in Permanenz. Auch unter Stress.
Das ist keine nette Beilage höflicher Umgangsformen. Es ist Lebensmittel einer globalen und multipolaren Welt. Wo dieser Dialog misslingt oder gar nicht erst versucht wird, ist sehr bald „die Hölle los“. Das erleben wir gerade an vielen Brennpunkten unseres geschundenen Heimatplaneten.
Die Paläontologen suchen schon lange vergeblich nach dem „missing link“, dem fehlenden Glied zwischen Affe und Mensch. Vielleicht ist ihre Suche der Irrtum. Das fehlende Glied der Evolution sind möglicherweise wir.
Ich freue mich auf die Ergebnisse dieses Treffens. Und ich bin sicher, dass wir alle klüger und nachdenklicher gehen werden als wir gekommen sind.