„Das Transatlantische Freihandelsabkommen“ – BAPP, 17. November 2015
Wertgeschätzter Professor Bindenagel, lieber James,
sehr verehrte Damen und Herren,
Paul Watzlawiks „Anleitung zum Unglücklichsein“ bedarf Ergänzung. Zur Auto-Immunabwehr von Glück gehört die Pose: „Geschieht meiner Mutter recht, dass ich mir die Hände abfriere. Warum kauft sie mir keine Handschuhe.“
Es gibt analoge Störungen im Verhalten der Völker und Staaten. Gerade das deutsch-amerikanische Verhältnis ist traditionell von großen Hoffnungen, Erwartungen, gar Idealisierungsphasen geprägt. Wenig löst negativere Emotionen aus als enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen. Der realistische Blick auf Interessen und deren Ausgleich ist hier besonders wichtig.
Unsere Welt ist unübersichtlich. Kaum einer durchschaut die Algorithmen und Prozesse, die im Hintergrund des Alltags ablaufen. Auch wer Errungenschaften der Moderne nicht dämonisiert, fühlt sich zuweilen ferngesteuert.
Wir genießen volle Regale und grenzüberschreitenden Austausch von Ideen und Waren, aber: Verhaltensauffällige Finanzjongleure, dilettantisch gesteuerte Großprojekte und richtlinienscheue Politik erodieren Vertrauen in die Weisheit der Gewählten. Wenn’s dann noch ans „Eingemachte“ geht, an die Nahrungskette oder die persönlichen Freiheitsrechte, kriegt der Normalbürger „grüne Pickel“. Er stemmt die Hacken in den Sand. Oft wirft er ein richtiges Argument in die falsche Waagschale.
Anstatt erkannte Probleme geduldig zu bearbeiten, fügt er ein weiteres hinzu: dumpfes Heimweh nach Einfachheit, Vorurteil und Klischee. Das entlastet den Gefühlshaushalt. Es erleichtert Verständigung mit Gleichgesinnten. Es stiftet Gemeinschaft. Es eignet sich als Projektionsfläche heimlicher Interessen und unheimlicher Ängste. Es erzeugt den fatalen, aber angenehmen Aberglauben, alles sei gesagt.
Da weigert sich was Infantiles, erwachsen zu werden. Das hieße: den Problemen pragmatisch auf den Pelz zu rücken. Das hieße: zwischen zwei Möglichkeiten die bessere zu wählen.
TTIP – das transatlantische Freihandelsabkommen – erregt Gemüter. – Mediale Zuspitzungen befördern das. Leute gehen auf die Straße. Sie fürchten um ihre gewohnten Standards.
In Sachen „Huhn“ fürchten sie sich mehr vor amerikanischem Chlor als vor deutschen Salmonellen und Antibiotika. Das hat etwas vom wilhelminischen Eifer, die Welt wieder einmal genesen zu lassen. Die erheblich größere Gelassenheit der meisten europäischen Partner ist keineswegs Beleg für deren Unbedarftheit. Aber: Es fehlt nicht am Stoff, mit dem man Albträume erzeugen kann.
Geheimdienste, die nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden, tragen wenig zur Vertrauensbildung bei.
Über ein großes Land wie Amerika kann man sagen, was man will, es stimmt immer irgendwo und irgendwie. Die Amerikaner sind kein „einig“ Volk, so wenig wie die Deutschen oder Franzosen. Wer das große, bunte, widersprüchliche Amerika zu einem Maggiwürfel schrumpfen möchte aus Ökonomismus, Gigantomanie, vermischt mit „Guantanamo“, „Bibelfanatik“ und NSA, dem geht es nicht um nützlich oder schädlich, sondern um sein Bild von: gut oder böse.
Wer alles in einen Topf wirft, entlastet sich vielleicht von intellektuellen Anstrengungen, aber er schadet sich. Er verzichtet auf die konkreten Vorteile eines gemeinsamen Marktes und damit auf Geld im eigenen Beutel. Er verzichtet auf den Kollateralnutzen stabiler Handelsbeziehungen. Mit Recht soll man vor der Unterzeichnung eines Abkommens die Vor- und Nachteile abwägen.
Moderne Technik und Verfahren entfesseln ungeheure Kräfte und Wirkungen. Falsch gestellte Weichen können in Sackgassen führen. Gesundes Zögern gehört zu den Eigenschaften der demokratischen Gesellschaft. Wer Gutes behalten will, sollte Neues kritisch prüfen.
Der Diskurs der Gesellschaft ist gut und nützlich. Er klärt Einzelheiten. Er bringt bisher unbedachte Alternativen ins Spiel, in der letzten Woche neue Vorschläge zur Rechtsfindung. Er ermöglicht, auch Träge und Ängstliche mitzunehmen.
Die Wirklichkeit passt nicht in Sandkastenförmchen der Vorurteile. In nervösen Zeiten sind wir dummerweise eher bereit, Konfrontation und Zerfall zu riskieren als uns für Zusammenarbeit und Interessenausgleich einzusetzen. Da genügen begehrlich aufgegriffene Missverständnisse und mediale Verzerrungen.
Professionell aufgezogene Kampagnen in den neuen Medien sind wirksam – ironischerweise nach amerikanischem Muster.
Das erinnert an die späten 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Der deutsche Protest gegen das hiesige Establishment und den Großen Bruder hinter dem Atlantik geschah just in Formen, die von dort importiert worden waren.
Von Amerika lernen, kann also auch heißen, protestieren lernen. Kontrast, der Zwang zur Differenzierung und Dosierung. – Das sind Botenstoffe für politischen Diskurs. Es sind auch Begriffe, die uns hier zusammengeführt haben. Die sorgsame Entwicklung und auch Bewahrung einer internationalen Struktur braucht kreative Geduld und Klugheit. Sie muss Hindernisse überwinden, auch Selbstzweifel, – erst recht den unbegründeten.
Dafür haben wir gleich wunderbar kluge Köpfe hier oben. In zwei Stunden werden wir klüger sein, als wir jetzt sind. Dafür vorauseilenden Dank.