„Kühle Wärme – Dank an Helmut Schmidt“ – Handelsblatt, 13. November 2015
Ich war junger SPD-Landesgeschäftsführer in Nordrhein-Westfalen. Ich erinnere mich eines damals erschienenen Buches zum kritischen Rationalismus von Karl Popper. Helmut Schmidt hatte ein Vorwort geschrieben. Darin fand sich die von seiner Lebenserfahrung geprägte Überzeugung, mit der man ihn zeit seines Lebens einordnen und etikettieren wollte: Emotion sei Manipulation, und deshalb gehört sie nicht in die Politik.
Wir hatten darüber eine kleine Kontroverse. Als Wahlkämpfer musste ich darauf beharren, dass Politik die Leute nur mit Verstand und Herz erreichen könne. Später begriff ich, dass es eine Leidenschaft des Verstandes gab, eine gefühlsstarke Logik, eine Ästhetik der mathematischen Formeln, Naturgesetze und der rigorosen Aufklärung. Ich sah auch, dass der kühle Hanseate sich im hitzigen Ringen um den besseren Weg selbst oft genug konterkarierte.
Als er mich, den damaligen Minister im Bonner Kanzleramt, zum ersten Mal besuchte, hatte ich eine Überraschung für ihn. Frau Duden, seine frühere Sekretärin und auch die von Gerhard Schröder, öffnete die großen Holztüren eines Aktenschranks. Die eingebauten zwei Tresore aus der Zeit von Helmut Schmidt hatte Helmut Kohl durch Kühlschränke ersetzen lassen. Nach ungläubigem Staunen stöhnte er: „Man sollte ihn beneiden.“ Helmut Schmidt war streng und realitätsverliebt, aber auch hintersinnig humorvoll und ein eindrucksvoller Darsteller.
Jetzt, wo ich darüber sinniere, reicht mir auch diese Feststellung nicht mehr aus. Bedeutende Persönlichkeiten sind nur in Gegensätzen zu beschreiben. Zu ihrem scheinbar schwankenden Bild in der Geschichte gehören viele Wirklichkeiten, auch solche, die ihr Geheimnis bleiben. Sie tanzen nicht auf dem ideologischen Hochseil und turnen nicht im Glitzerkostüm von Everybody’s Darling. Sie haben Qualifikationen jenseits politischer Seilschaften. Polit-insiderhafte Karriereplanung ist ihnen nicht Selbstzweck. Sie stehen für Überzeugungen ein. Sie besiedeln einen Lebensraum. Ihn wollen sie gestalten und verbessern.
Für Grundsätze und praktische Lösungen stehen, damit man wieder gut erkennbares Profil gewinnt. Das wäre wichtig für eine erfolgreiche Zukunft der Sozialdemokratie. Vom Volk verstanden werden, weil man das Volk versteht. Sich nicht weiter politisch zu verengen und Interessen zum gemeinsamen Handeln zusammenführen, nicht ständig dem eigenen Vormann in die Hacken treten, das wären Botschaften von Helmut Schmidt an seine Genossen.
Wie nötig hätte die Sozialdemokratie nun pragmatische Politik im Geiste eines Helmut Schmidt: z. B. in der sogenannten „Flüchtlingskrise“, z. B. im Korrosionsprozess der europäischen Einigung, z. B. in der klaren Zurückweisung ideologischer Sumpfblüten, z.B. im Kampf gegen Terror, z. B. auch als Gegenmodell für Politiker, die in permanenter Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung von einer Schaumkrone zur anderen hüpfen.
Amoz Oz schrieb von der „kühlen Wärme“. Er könnte an den Altbundeskanzler gedacht haben. Oder an Brechts „Kinderhymne“, die uns Deutschen einen so nützlichen Ratschlag gibt, weil er uns vor uns selber schützen könnte:
Und da wir dies Land verbessern,
lieben und beschirmen wir’s,
und das Schönste mag’s uns scheinen,
so wie andern Völkern ihr’s.