„Balance-Akt“ Prof. Bodo Hombach über Katja Glogers Buch „Putins Welt“ – Handelsblatt, 2. Oktober 2015

Balance-Akt
Bodo Hombach über Katja Glogers Buch „Putins Welt“

Wer in den aufgeregten Debatten unserer Tage „verstehen“ will, muss im nächsten Satz beteuern, dass das nicht per se schon Zustimmung bedeutet. Am Einfachsten: Man hat seine Meinung, sein Klischee, sein Vorurteil. Die Talkshows führen es täglich vor. Wer dort dem Kontrahenten zuhören würde und am Ende gar sagen „Ach, das habe ich so noch nicht gesehen. Darüber will ich nachdenken. Vielen Dank!“ läge voll daneben. Es wäre ein Schwächeanfall, zumindest ein Regelverstoß. – Wen wundert da die Argumentationsarmut im politischen Diskurs! Die Lieblingsvokabeln sind „Das geht gar nicht!“, „alternativlos“, „Rote Linie“, „klare Kante“.

In ihrem Buch „Putins Welt. Das neue Russland, die Ukraine und der Westen“ riskiert Katja Gloger den Balanceakt. Sie will verstehen und betritt mutig schwankenden Boden. Sie schreibt kenntnisreich und ohne Scheuklappen. Sie verzichtet auf Pauschalurteile und platten antirussischen Affekt. Ganz offensichtlich mag sie dieses Land, seine Sprache und seine Völker. Wer sich seit 25 Jahren damit beschäftigt, zunächst libidinös im Studium russischer Geschichte und Slawistik, dann auch beruflich als journalistische Zeitzeugin der Wende und heute als Stern-Korrespondentin in den USA, der hat genug Facetten gesehen, um vorsichtig abzuwägen. Das ist selten und deshalb kostbar.

In neun großen Kapiteln untersucht sie die „Causa Russland“. Sie beginnt mit der inneren “Welt“, dem „System Putin“, das ihr den Schlüssel liefert für alle weiteren Türen. Diese sind beschriftet mit den Bereichen Wirtschaft, Ideologie und Propaganda, Macht und Ohnmacht der Opposition und Außenpolitik. In der zweiten Hälfte des Buches geht es um die Kernfragen des gegenwärtigen Konfliktes: Ukraine, Nato und zuletzt um die „enttäuschten Erwartungen“ zwischen Deutschland und Russland. Hilfreich für den Überblick und gegen die Vergesslichkeit ist die anhängende Chronik der Ereignisse und ein Glossar der wichtigsten Personen und Sachen.

Die geübte Journalistin bleibt bei ihrem Leisten. Sie schreibt im Tonfall und im vorwärts drängenden Modus der Reportage. Das ist einladend und spannungsreich, geht vom Konkreten aufs Allgemeine, von Personen auf Sachen, vom scheinbar Flüchtigen aufs Gültige, und man verübelt nicht, wenn sie gelegentlich die Symbolkraft eines Randereignisses überstrapaziert. Wer die Welt aus einer Person heraus erklären will, ist dieser Versuchung ausgesetzt. Wer aber mit der Gleitsichtbrille beobachtet, wie sich ein Stück Welt aus dem Zusammentreffen eines Charakters mit den Umständen seiner Zeit entwickelt, kann Erhellendes entdecken und – wie hier – auch brillant formulieren.

Dem Westen erscheinen viele Aktionen des Kremls als töricht, sprunghaft und irrational. Demgegenüber gelingt es Katja Gloger, sie als Modulationen einer einzigen Trägerwelle zu erklären, nämlich der Geschichte eines Viel-Völker-Staates, der es unter ungeheuren Opfern (27 Millionen Tote allein im 2. Weltkrieg) lernen musste, jedes Näherrücken des Westens als Epidemie zu deuten.

Dabei gab es nach 1989 durchaus eine Phase der Öffnung in beide Richtungen. Präsident Bill Clinton bemühte sich um eine Vertiefung der Beziehungen. Konvergenz, Integration und strategische Allianz sollten den fragilen demokratischen Wandel in Russland unterstützen. Jelzin und Clinton trafen sich 18 mal und „zelebrierten eine manchmal rabaukige Polit-Freundschaft, die als ‚Bill and Boris Show‘ bekannt wurde.“ (Gloger) Sie übertünchte jedoch nur das spannungsvolle Verhältnis der beiden Supermächte. „Denn was dem Westen als ‚gemeinsamer Aufbruch zu neuen Ufern‘ galt, erschien aus Moskauer Sicht ‚als permanenter Rückzug und in den 1990 Jahren zudem als Balancieren am Abgrund.“

So entwickelte sich das Verhältnis mehr durch Missverständnisse als durch Annäherung. Die früheren Satelliten hatten nichts Eiligeres zu tun, als unter das Dach von EU und NATO zu schlüpfen, plausibel aus ihren Erfahrungen mit dem Großen Bruder, aber damit auch unfähig, ein wirklich neues Kapitel der Geschichte zu wagen. Anstatt die Errungenschaften der Wende mit großer Ausdruckskraft auch als Leistung des Ostens und eines Russlands darzustellen, das mit der Abkehr vom Stalinismus seine eigene Souveränität zurückgewonnen hatte, wurde das Riesenreich herumgeschubst, gedemütigt und erniedrigt. Der kapitalistische Westen hielt sich für den Sieger und bohrte, wo es nur ging, mit dem Finger in den offenbaren Schwächen des „Gegners“. Der Eiserne Vorhang wurde nur verschoben, nicht verschrottet.

In seinem jüngst erschienen Buch „So sehe ich die Dinge“ erinnert Hans-Dietrich Genscher an diplomatische Grundrechenarten, die in Vergessenheit geraten sind. Einen schwachen Gegner führt man nicht in seiner Schwäche vor. Man sucht nach gemeinsamen Interessen und verborgenen Motiven. Man verschafft ihm Erfolge durch eigene Zurückhaltung. Vor allem gibt man ihm keine Chance, die Suche nach der gemeinsamen Zukunft als „Versailles mit Samthandschuhen“ zu deuten und abzublocken. Hier hat der Westen so ziemlich keinen Fehler ausgelassen. Der Größte war die mangelnde Bereitschaft, den nur „eingetragenen“ Partner aus seiner Innensicht verstehen zu wollen, nicht, um die realen Konfliktlinien mit pflaumenweichem Appeasement zu verspachteln, sondern um die eigenen Interessen überzeugender und erfolgreicher vertreten zu können.

Man muss kein Putin-Versteher sein, aber man kann nach Ursachen, Mechanismen und Wirkungen fragen. Man kann die Vielschichtigkeit des größten Landes der Erde wahrnehmen, Motive erkunden, ohne sie zu teilen, Ängste analysieren, ohne sie zu schüren. Der erste Schritt eines Wandels durch Annäherung ist die Erkenntnis der eigenen Fehler. Stattdessen benehmen wir uns zuweilen wie eine aufgebrachte NGO, die Eskalationen braucht, um ihre Selbstzweifel zu unterdrücken.
Der Westen steht der neuen Herausforderung solange hilflos gegenüber wie er seinerseits versucht, nur die alten Waffen und Denkschablonen zu entrosten. Das Europa des 21. Jahrhunderts ist eben nicht das „Kongress-Europa“ des 19. mit moderneren Mitteln, kein mühsam austariertes Machtgeflecht, und auch nicht eine GmbH zur Profitmaximierung auf Kosten naher und ferner Nachbarn. Es ist vor allem Modell und Agenda für die Überwindung tausendjähriger Erbfeindschaften. Es ist der Supergau für die Arroganz der Macht und den politisch-militärischen Komplex. Wenn Staaten aber statt auf Kooperation auf Konfrontation setzen, folgen sie dem Dictum der Zarin Katharina der Großen: „Ich kann meine Grenzen nur verteidigen, indem ich sie ausdehne“. Auf einem Globus, den wir Menschen mikrobenhaft, parasitär und sterblich besiedeln, ist das albern, dumm und selbstzerstörerisch.

Angela Merkel befand, Putin lebe in einer anderen Welt. Aus russischer Sicht gilt das gleiche vom Westen. Eine junge Generation aber, die ihr einziges, kurzes Leben sinnvoll, gedeihlich und weltoffen will, wird sagen: Es gilt für beide.
Zu dieser Generation gehört die Autorin. Im letzten Abschnitt ihres Buches „Was tun?“ ist ihre Antwort: „Was tun!“ – Sie warnt vor einer Strategie des „Entweder-oder“ und setzt auf die des „Sowohl-als-auch“. – „Congagement“, also „irgendetwas zwischen Eindämmung (containment) und Einbindung (engagement), wäre ein zukunftsfähiges Konzept. Man möchte ergänzen: Aber bitte nicht wieder, um nur als „Sieger“ vom Platz zu gehen. Eine gute Frage für Diplomaten ist nicht „Was will Russland?“, sondern „Was will Russland eigentlich.“

Katja Glogers Buch ist spannende Lektüre für jeden, dem das „Mysterium“ Russland mit der Annektierung der Krim und einem kleinwüchsigen Gernegroß im Kreml nicht hinreichend beschrieben ist. Es ist sein Geld wert – und mehr als das.

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