Buchvorstellung: „Meine Sicht der Dinge“ von Bundesminister a.D. Hans-Dieter Genscher – BAPP, 30. September 2015
Sehr verehrte Damen und Herren,
lieber Herr Dr. Heumann,
lieber Herr Prof. Rödder,
lieber Herr Dr. Matthiesen,
verehrter, lieber Herr Genscher,
selten bin ich so sicher, im Namen aller Anwesenden zu sprechen:
Ich heiße Sie herzlich willkommen.
Ich zitiere aus einer Ballade von Bertholt Brecht:
„Als er siebzig war und schon gebrechlich,
drängte es den Lehrer doch nach Ruh,
denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich,
und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.“
Der Weise möchte sich zurückziehen.
Die neuen Probleme sind die alten.
Er wird an der Grenze vom Zöllner aufgehalten.
Der fragt: „Hast du was rausgekriegt?“
Die weise Antwort:
„Dass das weiche Wasser in Bewegung /
mit der Zeit den harten Stein besiegt. /
Du verstehst: Das Harte unterliegt.“
Lieber Herr Genscher, ich falle mit Ihrem Buch ins Haus.
Eine Schlüsselszene auf Seite 34:
Der sowjetische Außenminister Gromyko erlitt 1978 einen Schwächeanfall. Das geplante Gespräch mit Ihnen sollte keinesfalls ausfallen. Sie trafen sich. Sie sagten ihm, sie hätten auch Herzprobleme. Sie könnten sich in seine Situation versetzen.
Ich fahre fort mit Ihren Worten:
„Ich schlug ihm vor, dass er sich für eine Stunde auf der Liege des Botschafters niederlegen und erholen könne. Ich würde derweil Akten bearbeiten, und dann werde man weitersehen. Er drückte meine Hand und bedankte sich. Nach ungefähr einer Stunde begaben wir uns zu den Delegationen, die bereits gegessen hatten, nahmen nur noch das Dessert ein und gingen dann auseinander.
Gromyko hat beide Ereignisse (Sie haben noch ein ähnliches geschrieben – da ging es um die Schwäche von Herrn Breschnew) und die Art, wie wir damit umgegangen sind, nie vergessen.“
Ihr Fazit:
„Wer den Starken schwach erlebt, sollte darüber schweigen, auf jeden Fall nicht triumphieren.“
Sie schreiben, in den letzten Jahren hätten Sie oft an dieses Vorkommnis denken müssen. Sogenannte Staatsmänner nutzten die tatsächliche oder scheinbare Schwäche der Großmacht Russlands. Die wurden nicht müde, sich über die Repräsentanten Moskaus zu mokieren.
Ihr Kommentar:
„Russland war eine Weltmacht, ist es und wird es bleiben. Den anderen als ebenbürtig zu erkennen, ihm mit Würde zu begegnen – das gehört zum Umgang der Menschen, der Völker und der Staaten miteinander.“
Ihr Buch hat einen bescheidenen Titel: „Meine Sicht der Dinge“.
Seinen Zweck erfüllt es als Veranlassung für eigenes und kollektives Nachdenken.
In einer Phase wachsender Blindheit und Vergesslichkeit reibt es uns die Augen.
Das ist not-wendig.
In Europa verlangsamt sich der Einigungsprozess. Es gibt Tendenzen, ihn zurückzudrehen. Währungsunion ohne gemeinsame Finanzpolitik wird zum Spaltpilz. Als erhoffter Motor der Einigung taugt sie nicht. Der Nahe und Mittlere Osten zerfällt in Anarchie. Der Westen kann seine Hände nicht in Unschuld waschen.
Flüchtlingsströme aus Syrien, Afghanistan und Afrika versuchen, sich aus Todesnot zu retten. Der Eiserne Vorhang wurde nur scheinbar verschrottet. Er wurde nach Osten verschoben. Nicht ohne Konfrontation. Ein gedemütigtes Russland setzt wieder auf militärische Lösungen.
Das Wort von der Unverrückbarkeit der Grenzen war ein Missverständnis. Einige meinten offenbar die Unverrückbarkeit von Einflusszonen.
Der Westen jedenfalls hat sich enorm ausgeweitet.
Christian Morgenstern, der humorvolle Pessimist, war überzeugt: Wir Menschen lernen aus Katastrophen. An solchen mangelt es leider nicht. Man sollte glauben, nach unzähligen, schmerzhaften Gelegenheiten hätten wir hinzugelernt. Wir seien inzwischen hinreichend klug. Wir wüssten den richtigen Weg, zwischenstaatliche Katastrophen zu vermeiden. Zumindest würden wir keine falschen Wege einschlagen.
Ich höre Sie innerlich seufzen. Zu recht, denn das Gegenteil ist der Fall. Auf vielen Gebieten bringen wir unglaubliche Leistungen zustande.
Auf dem Gebiet der internationalen Politik treffen wir zu häufig auf naive Dilettanten.
Die große amerikanische Historikerin Barbara Tuchman schrieb kürzlich über die „Torheit der Regierenden“. Sie meinte nicht „Fehler“. Die sind bei Menschen unvermeidlich. Sie schrieb von einer beharrlichen Dummheit entgegen besserem Wissen.
Wie kann das sein?
Eine Spekulation: Gegen alle Einsicht und Vernunft inmitten einer rational organisierten Moderne spielt noch tribales Stammesverhalten eine Rolle.
Modelle internationalen Ausgleichs vom Attischen Seebund über Völkerbund und UNO bis zur EU entstehen als Lerneffekt aus Katastrophen. Wenig später erwachen wieder nationaler Egoismus und die Kräfte des Zerfalls.
Noch eine Spekulation: Katastrophen bescheren den Überlebenden einen Moment der Hell- und Weitsicht. Gesellschaften haben jedoch ein gefährlich kurzes Gedächtnis. Nach ungefähr 50 Jahren verwandeln sich Nachkriegszeiten wieder in Vorkriegszeiten.
Deshalb sind Menschen besonders wertvoll, die überlebenswichtige Erfahrungen gemacht und daraus gelernt haben. Doppelt wichtig ist, dass sie sie weitergeben.
Neue Gedanken sind selten.
Neues Denken noch seltener.
Ideologische Heißsporne und Regierungen, die sich wie NGO’s benehmen, ignorieren die Regeln der Diplomatie. Sie würden gern – wie weiland Alexander – den Gordischen Knoten zerhauen, anstatt ihn geduldig aufzudröseln.
Erich Kästner sagte:
„Zerhauen ist schlecht.
Strick kann man immer brauchen.“
Hans-Dietrich Genscher schreibt von der „Welt als Kooperationsordnung auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit.“ Das ist Appell, nicht Interpretation.
Die Form des Interviews macht das Buch frisch und lesefreundlich.
• Es ist nicht das „Empört Euch!“ des Stéphane Hessel.
• Es hyperventiliert nicht wie flinke Lagerkämpfer, die sich profilieren wollen.
• Es erscheint im genau richtigen Moment.
Kürzlich hatte ich Henry Kissingers Buch „Weltordnung“ in der Hand. Er ist auch ein elder statesman, der dreimal nachdenkt, bevor er einmal schreibt. Er redet auch mit Leuten, deren Ansichten er nicht teilt. Ganz bestimmt redet er mit Leuten, auf die er angewiesen ist, wenn es ums Überleben der Menschheit geht.
Der Sieg gehört nur einem.
Der Friede gehört beiden.
Was ist jetzt zu tun?“ fragt Hans-Dietrich Genscher. Er gibt Antworten. Er wird sie gleich geben.
Das Modell Genscher: Türen öffnen und offenhalten. Alternativen suchen, wo andere behaupten, es gäbe keine. Keine nervösen Gefühligkeiten. Den aktuellen Stand kühl analysieren.
– Diplomatie beginnt lange vor der ersten Verhandlung. Ihre eigenen Interessen scheitern, wenn sie blind ist für die Motive und Interessen des anderen.
Die Quintessenz eines langen Diplomatenlebens ist Erkenntnisgeschenk für uns.
Wie der Weise bei Brecht hat Hans-Dietrich Genscher „was rausgekriegt“.
Wie jener muss er seine Autorität nicht mehr legitimieren. Aber er brauchte auch einen „Zöllner“:
Dr. Hans Dieter Heumann, der das Gespräch mit ihm führte. Vor ihm verneigte sich Brecht mit einer ganzen Strophe:
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen,
dessen Name auf dem Buche prangt,
denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt.
Er hat sie ihm abverlangt.
Ich freue mich auf das folgende Gespräch. In eineinhalb Stunden werden wir klüger sein als wir jetzt sind.
Auch dafür danke ich