„Journalismus im Visier“ – Keynote itsc Kundentag, 15. September 2015

Meine Damen und Herren,

ich danke für die Gastfreundschaft und ein Thema, das einen Nerv der Gesellschaft trifft. Es verdient genaues Hinschauen. Mit unabhängiger und kompetenter Presse steht und fällt ein demokratisches Gemeinwesen. Sie spiegelt die Welt, die uns umgibt. Die ist uns zu einem winzigen Teil durch Primärerfahrung zugänglich. Wir sind auf Sekundärerfahrung angewiesen.

Früher war dem deutschen Michel gleichgültig, was sich hinter den Bergen, dem großen Wasser oder irgendwelchen Wüsten ereignete. Goethe reimte: „Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, / wie fühl ich mich so froh und frei, / wenn hinten, fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen.“ Die biedermeierliche Denke hat sich in Spitzweg-Motive zurückgezogen. Globalisierung ist auch Welt-Innenpolitik. Es ist Begegnung von fernen Kulturen. Auch eine neue Konfrontation. Eine dänische Regionalzeitung veröffentlicht Karikaturen. Das kann in Pakistan Hunderttausende zu Hassdemonstrationen auf die Straße treiben.

Es muss uns interessieren, ob man uns ein zutreffendes Bild vermittelt, ob wir die wirk-lichen Zusammenhänge und Hintergründe erfahren. Es muss uns interessieren, wie Medien arbeiten und welche Leistungen sie erbringen. Sie sind zu wichtig, um sie sich selbst zu überlassen.
Ich bin bereit, groß von Journalisten zu denken. – Es würde mich nicht stören, wenn sie selbst groß von sich denken. Sie müssen aber ihre Arbeit ordentlich machen. Medien sind keine Veranstaltung für sondern eine der Gesellschaft. Ihre Rolle ist konstitutiv für unsere Demokratie.

Die Frage „Was ist, wenn es alle tun?“ als kategorischen Imperativ von Kant höre ich selten. Der kategorische Imperativ unserer Mediengesellschaft lautet: „Was ist, wenn es rauskommt?“ Macht und Mächtige fürchten nichts so sehr, wie die Veröffentlichung von dem, was sie nicht öffentlich vorzeigen wollen. Das diszipliniert und ermöglicht demokratisches Miteinander.

Die Medienlandschaft erlebt eine dramatische Umbruchsphase. Das hat zum Teil tech-nische Ursachen: die digitale Revolution mit ihrer Mobilisierung der Geräte, die explosive Ausfaltung des Internets, die zeitgleiche Synchronität von Ereignis und Rezeption, die grenzenlose Kommunikation.

Die totale Überflutung mit ungeprüfter Information ist ein epochaler Strukturwandel. Wir erleben zunehmende Kommunikationsdebakel. Nicht immer so platt wie die WELT-Meldung vom 10. Juli: „Helmut Kohl ist tot“. Die sind als unterhaltsame Kapriolen nicht abzutun. Sie sind Herausforderungen der demokratischen Gesellschaft.

Verlage haben wirtschaftliche Sorgen. Der Pegel von Anzeigen und Abonnenten sinkt. Sparzwänge verdichten die Arbeit und verarmen Erträge. Der ökonomische Maßstab hat im Kultursektor Grenzen.

Wir kennen die auch aus der Landwirtschaft, aus Universitäten, aus der Politik, eben auch aus der Presse. Nachrichten sind Ware, aber nicht nur. Im Verdrängungswettbe-werb geht Tempo vor Sorgfalt. Banales wird aufgeschäumt. Erregungspotenzial und Unterhaltungswert rücken in den Vordergrund. Sachthemen werden personalisiert, Meldung und Meinung nicht mehr klar unterschieden. Das System begünstigt tendenziell schlechte Eigenschaften und Charaktere. Es benachteiligt gute.

Die Trillerpfeifenmelodie: „Quantität ist Qualität“ geht fehl. Wie beim Künstler können fünf mittelmäßige den exzellenten nicht ersetzen. Der exzellente Journalist wird ge-braucht. Der Nachrichtenjournalismus wird zunehmend von Maschinen abgewickelt. Tugenden werden nicht offiziell abgeschafft. Sie werden umgedeutet. Auch der Grundsatz, der lange Jahre die Journalisten-Ausbildung bestimmte: „Mach dich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten!“ Gegenwärtig werden Journalisten, die Sendungsbewusstsein ausleben, belobigt.

Ich habe das Wort vom „intentionalen Journalismus“ geprägt. Es gibt ihn in verschiedenen Abstufungen. Von der wohlmeinenden Absicht über viele Formen der Interessenvertretung bis hin zur robusten Propaganda und dem Versuch, als Ko-Politiker unmittelbar in die Zuständigkeit der Staatsorgane einzugreifen. Die Folgen sind unübersehbar: Das Vertrauen in den Journalismus sinkt. Er steht unter verstärkter Beobachtung. Er zeigt aber wenig Neigung, sich selbst kritischen Fragen zu stellen. Das Wort vom „Lügen-Journalismus“ ist nicht in aller Munde, aber schon in zu vielen Köpfen.

Journalismus ist „Spiegel“ der Welt. Entscheidend ist: Wer hat den Spiegel in der Hand, wie geht er damit um? Worauf ist er gerichtet, worauf nicht? Wann vergrößert, verkleinert, verzerrt er die Realität? Welche Themen streift er nur, auf welchen verweilt er unsinnig lange? Welche Interessen stehen dahinter? Am Ende glauben wir, alles mit „eigenen Augen“ gesehen zu haben und haben doch nichts Verlässliches erfahren.

Vier Sünden aus dem Beichtspiegel des politischen Journalisten erscheinen mir besonders bedenklich. Hier bedarf es der Reue und Umkehr.

1.Der Hype
Wir haben es erlebt: Monatelang beherrscht ein Thema die Öffentlichkeit: Griechenland. Europa leistete sich ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Finanz-Technokraten und sozial auffälligen Salon-Sozialisten mit Schillerkragen. Gleichzeitig erwägen die Briten ihren Austritt aus der EU. Die TV-Scheinwerfer starrten beharrlich auf griechische Bankautomaten, obwohl ein Briten-Ausstieg der wirkliche Anfang vom Ende dieses Europas wäre.
Die Produktionsbedingungen der Medien-Branche fördern Verhalten, dem sich der einzelne Journalist kaum entziehen kann. Die Anbieter kämpfen um einen nicht mehr zu vergrößernden Markt. Verdrängungskonkurrenz erzeugt eine eigene Logik.
Nicht Relevanz entscheidet, sondern das Erregungspotenzial. Politische Vorgänge erscheinen in systematisch verzerrter Darstellung. Der Journalist wird Teil des Ereignisses. Er inszeniert mit. Strukturfragen werden personalisiert. Sie werden nach dem Muster privater Beziehungen gedeutet und psychologisch diagnostiziert.
Berichte über wichtige Themen fokussieren auf parteipolitisches Gezänk und Gescha-cher. Aus Information wird Infotainment. Wir erleben nicht Vielfalt und diskursive Spannung, sondern „Mainstreaming“. Motto: „mehr desselben“. Nichtiges schäumt gewaltig. Sachthemen werden püriert. Gerüchte tunen sich zur Tatsachenbehauptung. Die Systemtheorie kennt das Phänomen: Den sich selbst verstärkenden Regelkreis.

2. Die Jagd
Die zweite Todsünde eines politischen Journalisten ist Jagdfieber. Reporter gieren nach dem ersten Foto, belagern das Haus des Opfers, des Täters, kämpfen um das erste Statement der Nachbarn und Freunde.

Helfer müssen sich nicht nur um traumatisierte Opfer kümmern. Sie müssen nebenbei eine Horde internationaler Journalisten im Zaum halten. Die „Meute“ hat ihr Scheckbuch dabei. Nachbarn plaudern munter drauflos. Gierige Kameras und Mikrofone saugen alles auf. Es fehlt nicht an Skandalierung zu Guttenberg, Schavan, Köhler, Wulff, Steinbrück. Es geht mir nicht um Meinungen zur jeweiligen Affäre. Es geht um Methoden und Haltungen politischer Journalisten.

Während des Wahlkampfs 2013 konnte der FAZ-Journalist Minkmar den Kanzlerkandidaten Steinbrück ein Jahr begleiten. Er hatte Gelegenheit, das Verhältnis von politischer und medialer Realität zu studieren. Sein Fazit: Sachthemen kamen so gut wie nicht zur Sprache. Politik wurde Nebensache. Das Medienkarussell erzeugte einen Strudel, dem niemand entkommen konnte. Menschen werden zum „Zielobjekt“. Sie werden „zur Strecke gebracht“.

Äußerst bedenklich wird solches Verhalten, wenn einige aus der Justiz mitmachen. Eine Hausdurchsuchung ist dann nicht mehr Hoheitsakt der Staatsgewalt, sondern Regieknüller einer Inszenierung. Wenn Staatsanwälte vor Prozessbeginn öffentlich ihre Beurteilung anbieten, wird es gefährlich. Auch hier ist die Rolle der Medien ambivalent. Sie spiegeln nicht nur, sie kreieren auch Ansichten der Bevölkerung.

3.Der Kotau

Die dritte Todsünde des politischen Journalisten ist der „Kotau“ – die Unterwerfung unter die subtilen Verführungen der Macht und des Geldes. Die moderne Macht arbeitet nicht mit Reichsparteitagen, Spitzelsystemen und Folterkammern. Sie hängt süße Fliegenfänger in die Landschaft. Sie wartet geduldig ab.

Sie begrenzt die Freiheit nicht durch Attacke, sondern durch Umarmung. Den Zugang zu Schmuddelecken der Macht müssen sich Journalisten erkämpfen. Journalisten haben aber freien Zugang zu den großen Inszenierungen. Sie werden mit Hochglanzbroschüren überschüttet. Man bittet sie zum „Hintergrundgespräch“ und nachher zu Tisch. Solcherart hofiert erliegen schwache Charaktere der Vorstellung, sie selbst seien Teil des Systems. Gehören Journalisten in die erste Reihe? Wer vorne sitzt, hört schlecht, was hinter ihm gesprochen wird. Er hört gar nicht, was geflüstert wird.

Während sich die Akteure im politischen Ring abrackern und sich gegenseitig das Ge-sicht demolieren, können sie sich zurücklehnen und Noten verteilen. Medien und Politik spielen im gleichen Stück und vor dem gleichen Publikum, aber in verschiedenen Rollen. Sie können sich aber auch gegenseitig die Rollen streitig machen.

Das bringt mich zur vierten Todsünde des politischen Journalisten:

4. Der Wille zur Macht
Beim letzten Bundestagswahlkampf wurde ein Phänomen besonders deutlich, das in der „Mediendemokratie“ von wachsender Bedeutung ist. Ich zitiere Thomas Meyer, emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Chefredakteur der Zeitschrift Frank-furter Hefte: „Das Ziel maßgeblicher Journalisten war, sich in den Prozess der Machtbildung einzumischen.

Bei einer zentralen Gruppe von Alpha-Journalisten ist eine Erosion essentieller professioneller Maßstäbe zu beobachten. Sie agieren längst, als hätten sie ein privilegiertes politisches Mandat. Es ging ihnen darum, den Wählern in der Wahlkabine „die Hand zu führen.“ In autoritären Systemen ist Journalismus ein homogener Block. In einer multi-polaren Gesellschaft entfaltet er sich in einem weiten Spektrum von Kompetenz, Profil, Temperament und Charakter. Die Pluralität des Informationsangebotes steht für den Anspruch des Bürgers auf politische Selbstbestimmung.

Dem „Veröffentlichungsmonopol“ steht kein adäquater Kontrollmechanismus gegen-über. Das wäre so lange erträglich, wie freiwillige Selbstkontrolle greift und Fehlentwicklungen vermieden werden. Die Öffentlichkeit hat die neuen medialen Risiken noch nicht wirklich erkannt. Die Politik ist noch auf die alten Medien fixiert. Das Netz entwickelt sich archaisch. Grenzüberschreitung jeder Art ist Prinzip.
Die hohe Komplexität politischer, ökonomischer und sozialer Problemstellungen über-fordert und ermüdet große Mehrheiten der Gesellschaft. Als „irgendwie richtig“ er-scheint, was die Komplexität reduziert, sie in Schlagworten, fetten Schlagzeilen, Wort-hülsen und Vorurteilen scheinbar auflöst.

Guter Journalismus traut sich zu, Fakten und Kriterien zu finden, die sinnvolles Handeln ermöglichen. Wo es ihn noch gibt, kämpft er ziemlich chancenlos gegen das Massenbündnis unkritischer Nutzer mit der Verblödungsindustrie.

Ein Journalist, der sich als Ko-Politiker gebärdet, gibt sich auf. Er entwickelt Immunab-wehr gegen Kritik. Die erscheint ihm als „Angriff auf die Pressefreiheit“. In einer durch-kommerzialisierten Branche ist das Berufsethos des Journalisten gefordert. Angesichts wirtschaftlicher Probleme überlegt man sich, wen man verärgern kann.

Unter der Überschrift: „Journalisten glauben nicht an ihre Zukunft“ wurde am 6. August 2015 eine Umfrage veröffentlicht. Auftraggeber war ein Branchenportal. 89,6 % beklagen, dass umfassende Recherchen durch Zeitdruck verhindert werden. 93 % befürchten, dass Glaubwürdigkeit der Medien sinke, weil Werbung und PR zunehmend Einfluss auf Inhalte bekämen. 76,4 % fürchten um ihren Arbeitsplatz.
Wenn man die Macher fragt, sieht die Zukunft düster aus. Luther würde fragen: „Wie soll aus einem verzagten Hirn ein brillanter Gedanke kommen?“ Es gibt nicht nur eine Wahrheit – ganz sicher viele Arten von Lügen. Man muss Mächtigen nicht nach dem Munde reden. Man kann ihnen auch nach dem Ohre schweigen.

Bevor er sein Nachtgebet spricht, sollte der Journalist sich fragen: Habe ich nachge-fragt, wenn immer mehr Staat weite Teile der Gesellschaft besetzt, wenn er regelt, was Bürger selber regeln können, wenn er bevormundet, wo Bürger selber den Mund auf-machen können? Bin ich Wortführern in Politik, Wirtschaft, Gewerkschaft und Interes-senverbänden auf den Leim gegangen? Weil ich ihre Designer-Statements ungeprüft übernommen habe? Weil ich gern mit den Würdenträgern in der ersten Reihe sitze? Weil ich im Mainstream mitgeschwommen bin? Weil ich die Leute buchstäblich hinter mir gelassen habe?

Meine Damen und Herren,

Fehler passieren überall, Fehlentwicklungen auch. Sie sind so lange verkraftbar wie ihnen kritische Kontrolle gegenübersteht. Da staatliche Zensur gottseidank „nicht statt-findet“, ist Selbstkontrolle gefragt. Daran mangelt es.

Gerade hatten wir auf allen Kanälen das Thema „Netzpolitik.org“. Mich beschäftigt hier nicht Pro und Kontra „Staatsgeheimnis“, Rechtmäßigkeit einer Anzeige, Absetzung des Bundesstaatsanwalts.

Natürlich gibt es einen Konflikt zwischen Diensten, die den Geheimnisstempel setzen und Journalisten, denen Veröffentlichen Herzensanliegen ist. Ich stelle eine Statusfrage: Wie verhält sich im Zeichen des Internets die professionelle Presse zur freilaufenden Bloggerkultur? Kann jeder morgens aufwachen und sagen: „Ab heute bin ich Journalist“?

Die beiden Netzwerker definierten sich nicht neutral und als Mischwesen. „halb journalistisch und halb NGO – halb TAZ, halb Greenpeace“. Aus einer erklärten politischen Interessenlage kann man nicht objektiv berichten
Ohne sich seiner Verantwortung zu stellen und das Presserecht zu respektieren, kann man es nicht beanspruchen. Verkünder letztgültiger Wahrheiten sollten keinen Phantasienamen als „Burka“ tragen.

Von Seiten der Presse sah ich kein Erstaunen über Selbstermächtigung von Bloggern. Die spielen schnelle Eingreiftruppe der Vierten Gewalt. Ein Berufsstand, der nicht minder gefährliche Dinge tut als ein Chirurg oder ein Architekt, überlässt man nicht Laienspielern.
Im Straßenverkehr haben bestimmte Fahrzeuge Sonderrechte. Sie schalten Blaulicht ein und fahren bei Stau ungestraft über Randstreifen oder rote Ampeln. Das dürfen sie zur Rettung bedrohter Menschenleben oder zur Verhinderung oder Verfolgung einer Straftat. Nicht alle können sagen: Ein Blaulicht will ich auch.

Das ist eine holzgeschnitzte Analogie. Wenn sich jeder als Journalist ausweisen darf, weil er ein paar wütende Sätze schreiben kann und ihm sein Tablet für lau einen Welt-Sender zur Verfügung stellt, sollten professionelle Journalisten und wir eine steile Stirnfalte bekommen und sagen: „Stop mal!“.

Wenn die Profis der Blogger-Szene die Themenfelder und Spürnasen überlassen, für die ihnen selbst Mut oder Eifer fehlen, wird der Komödienstadl das Staatstheater besetzen.

Im Internet tummeln sich ernsthafte Wahrheitssucher, aber auch massenhaft dubiose Spontis. Firmen, Parteien und Interessengruppen unterhalten inzwischen pseudonyme Blogs, um Konkurrenten aus dem Markt zu drängen oder politische Gegner zu bashen. Das ist kaum einzudämmen. Man sollte zögern, Hoheitsrechte wie Quellenschutz oder Zeugnisverweigerung aushöhlen zu lassen, weil sie sich inflationieren.
Ich bin kein Träumer. Jede Information ist auch Desinformation. Sie stanzt einen Teil-aspekt aus dem Gesamtzusammenhang. Das ist unvermeidbar, und bekümmert den verantwortlichen Journalisten. Er weiß, dass Neutralität und Objektivität immer nur das Ziel sein können: unerreichbar wie der Polarstern, aber unverzichtbar als Orientierung auf hoher See.
Charakter und persönliche Lebenserfahrung spielen hinein. Die Großen des Gewerbes waren nicht nur „Textwerker“ und Zeilenschinder, sondern auch prägnante Persönlichkeiten.

Sie waren Lichtjahre entfernt vom unverantwortlichen Skribenten, der gezielte Desin-formation betreibt, weil er ein ideologisches Konzept verfolgt, das Lied der Mächtigen singt oder einfach nur drauflos plappert.

Der verantwortlich handelnde Journalist wird sorgfältig recherchieren, Quellen überprüfen und abgewogen gewichten. Er hält Meldung und Kommentar klar auseinander. Er nimmt seine Zuschauer oder Leser ernst. Deshalb traut er ihnen zu, sich auf die Fakten ihren eigenen Reim zu machen. Er ist auch bereit, seinen eigenen Helden zu entlarven, wenn es die Tatsachen erzwingen. Er weiß, dass jedes Ding mehrere Seiten hat. Er hält es mit Tucholskys geschliffenem Satz: „Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Ich glaube keinem, der sie gefunden hat.“
Bei Lebensmitteln verlangen wir, dass man uns sagt, was drin ist. Nach vielen Skandalen mit gefährlichen Substanzen, Gammelfleisch oder falschen Mixturen ist dies der Versuch, verlorene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.
Wie wäre es – naiv gefragt, wenn sich auch der Journalist kennzeichnen oder outen würde, der mir nichts berichten, sondern dieses oder jenes Ziel verfolgt?

Also: „Hiermit soll Frau Merkel beschädigt werden.“ Oder: „Hiermit werde ich das geliebte Gabriel-Bashing fortsetzen.“
Natürlich lässt sich das nicht realisieren. Man könnte aber für sich selbst ein eigenes Raster entwickeln, das hinter dem Erregungsschaum die nichtige Relevanz, hinter den Fakten die Gerüchte und hinter dem Bericht die Absicht erkennt. Zu Risiken und Nebenwirkungen frag dich selbst, deine Lebenserfahrung oder einen Menschen deines Vertrauens! – Ein wichtiges Lernziel der Medienkunde.

Früher begann die Leistung des Journalisten mit der Auswahl der Nachrichten. Er trennte die Spreu vom Weizen. Heute haben wir eine veränderte Situation. Nachricht und Meldung lösen sich vom Journalismus. Der „Live-Ticker“ ist Normalfall. Die Zeitung war auch auf der Jagd nach Aktualität. Zugleich aber war sie wenigstens ein paar Stunden lang auch Absetzbecken und Klärwerk. Die aktuell verfügbare Technik ist nicht entscheidend. Es ist egal, ob Inhalte als „Holzmedium“ oder auf dem Touchscreen daherkommen. Es geht um Relevanz und Qualität.
Wir wollen eine konstruktive Rolle als Bürger, Wähler und Zeitgenossen spielen. Dafür brauchen wir ein möglichst realistisches Bild dieser Welt. Ich will nicht nur kritisieren. Ich mache einige bescheidene Vorschläge:
Professionalisierung ist wichtiger denn je. Gutes darf etwas kosten. Echte Reportagen und kritische Berichte brauchen Zeit, Kraft und Ausdauer. Schund und Geschrei drän-gen sich auf. Eine gute Recherche, eine stichhaltige Enthüllung, eine gründliche Analyse muss man sich besorgen wie ein Wertobjekt.

Neue Höflichkeit. Anarchische Verwilderung und Infamie fördern den Zerfall der Gesellschaft. Verluderung ist kein Bio-Siegel. Wer nur die Toilettentüren aushängt, bringt noch keinen neuen Menschen hervor. Die wachsende Dichte und Verflechtung aller Vorgänge in der Welt zwingen zu neuen Umgangsformen.

Als praktische Reform könnten große Medienhäuser im eigenen Blatt oder Programm schwere Fehlgriffe aufarbeiten. Richtigstellung und Entschuldigung sollten selbstver-ständlich sein. Eine „Glashaus“-Sendung wie sie der WDR einmal im Dritten Programm hatte, ist nicht Nestbeschmutzung, sondern Hausputz. Warum nicht einen oder zwei der begehrten Journalisten-Preise für journalistische Selbstkritik reservieren? Ein jährlicher „Bundespressetag“ als Begegnung der Branche mit sich selbst, aber auch mit externer Kritik aus Wissenschaft und Politik könnte die eigene Arbeit evaluieren. Es wären erste Schritte, dass der Journalismus ein realistisches Bild von sich und seinem Verhältnis zur Gesellschaft findet.

In französischen Fabelbüchern gibt es die Geschichte von Chantecler. So lautet dort der Name des Hahns. Jeden Morgen bildet er sich ein, erst durch sein Krähen gehe die Sonne auf. Entsprechend selbstbewusst gebärdet er sich im Hühnerhof, und die Hennen, die es besser wissen, lassen ihm seinen Spleen. Eines Tages wird ihnen sein protziges Getue jedoch zu bunt. Sie mischen ihrem Herrn und Meister ein Schlafmittel unter die Körner. Als er am nächsten Morgen erwacht, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Chantecler ist zutiefst erschüttert. Er erlebt die totale Identitätskrise, und aller Glanz fällt von ihm ab. – „Hochmut kommt vor dem Fall!“ sagen die Hühner und picken ungerührt weiter.
Ich danke Ihnen.

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