„Die Rolle des Skandals in der Politik“ mit Prof. Dr. Klaus Kocks (Unternehmensberater) – Uni Bonn, 1. Juli 2015

Meine Damen und Herren,
lieber Herr Prof. Kocks,

unser Gast, Prof. Dr. Klaus Kocks ist Ökonom, Sozialwissenschaftler und PR-Berater. Er ist Honorarprofessor an der Universität Osnabrück, ein Kommunikator ersten Ranges und mit allen Talkshows gewaschen. Ich freue mich sehr, dass er seinen Dauerlauf für heute unterbrechen konnte. Herzlich willkommen!

Die Rolle des Skandals in der Politik. Wir haben eine kleine Typologie der Erscheinungs-formen erarbeitet. Wir haben den normalen Verlauf, die „Dramaturgie“, eines politischen Skandals untersucht und dabei auch auf die Rolle der Medien geachtet. Wir haben über die juristischen Aspekte gesprochen und uns gewundert, dass auch heftigste Erregungen der Öffentlichkeit im Gerichtssaal meist zum Freispruch schrumpfen.

Heute geht es um die tieferen Ursachen und Wirkungen des politischen Skandals. Solche haben wir schon gestreift. Es lohnt sich aber, gründlicher hinzuschauen.

Jeder Mensch hat ein inneres Wertesystem. Es entsteht in frühen Kindheitsphasen und vor allem in den kleinen Milieus von Familie, Schule, Gemeinde und Verein. Dieser Rahmen kollidiert später mit Ereignissen und Verhaltensweisen, die ihn stören oder gar sprengen. Das wird dann als skandalös empfunden. Es irritiert das innere System und kann es verändern. Oder es bestätigt und verstärkt.

Bei den wenigsten Zeitgenossen decken sich moralischer Anspruch und Taten. Das pro-duziert unterbewusste Schuldgefühle. Die kann man aber auf prominente Übeltäter proji-zieren. Sie werden zum „Sündenbock“. Man belädt sie quasi mit den eigenen Schwierig-keiten und jagt sie in die Wüste. Ein Reinigungseffekt.
Vielleicht ist dieser Reflex sozial-genetisch programmiert. In der geschlossenen Stam-mesgesellschaft gehörte man nur dann dazu, wenn man den gemeinsamen Code kannte, – sich über die gleichen Dinge echauffierte oder amüsierte. Wer gegen diese Normen ver-stieß, riskierte Ausschluss oder Vernichtung.

Die Zeiten sind vorbei. Das Verhalten bleibt. Pegida-Demonstranten skandieren „Wir sind das Volk“. Sie suchen nach Sündenböcken für ihr eigenes Versagen (z. B. bei der Integra-tion von Zuwanderern) und fordern den Ausschluss der Fremden, die ihren Code nicht verstehen. Sie selbst verstehen den Code ihrer Umgebung nicht mehr. Im modernen In-dustriestaat gibt es kein „Volk“ mehr. Es gibt nur noch eine „Bevölkerung“.

Der Skandal überbrückt solche Widersprüche, Risse und Spannungen der multiplexen Gesellschaft. Er verdichtet alles in einer Person, die man nun an den Pranger stellen kann. Man ist empört und fühlt sich mehrheitsfähig. Nichts erleichtert das Zusammenrücken mehr als ein gemeinsamer Gegner.

Der Skandal ist ein charakteristisches Merkmal offener Gesellschaften. In autoritären oder durchgängig korrupten Systemen gibt es keine Skandale, weil sie nicht öffentlich werden.

Die scheinbare Häufung in den demokratischen Gesellschaften kann zweierlei bedeuteten: Die Presse ist frei. Sie kann recherchieren und berichten. Vieles kommt ans Licht. Oder: Es gibt tatsächlich mehr Fälle aufgrund nachlassender ethischer Selbstkontrolle.

Soziologen unterscheiden zwischen der „Schuldgesellschaft“ und der „Schamgesellschaft“. In der ersteren unterlässt man bestimmte Taten, um nicht schuldig zu werden. Auch wenn man dafür auf materielle Vorteile verzichtet. Es ist das preußische „Üb immer Treu und Redlichkeit.“ – In der Schamgesellschaft ist praktisch alles erlaubt, was den eigenen Interessen nützt. Wer sich erwischen lässt, war nur ungeschickt. Er hat nicht Schuld auf sich geladen, sondern einen Fehler gemacht. Steuertricks gelten dann als Kavaliersdelikt. Ihre Aufdeckung durch Geheimnisverrat ist „unfair“. (Bei der Debatte um den Ankauf Schweizer Bankdaten z. B. standen sich beide Welten verständnislos gegenüber.)

Die Presse hat eine entscheidende Rolle. Sie berichtet über, ist aber selbst auch Teil des Systems. Sie kann mit Sorgfalt und Ruhe die Selbstreinigung der Gesellschaft fördern. Sie kann aber auch den „Verschmutzungsgrad“ steigern, wenn sie zur Hetzjagd bläst oder Irrelevantes künstlich aufschäumt.

Angesichts explodierender Verbreitungsmöglichkeiten bei gleichbleibend großem Markt steht sie in einem scharfen Verdrängungswettkampf. Das begünstigt schwache Charakte-re und Unprofessionalität. Schnelligkeit geht vor Sorgfalt. Auch das führt zu Übertreibung und Dramatisierung.

Das Internet ist eine neue Stufe der technisch-kommunikativen Zivilisation. Aber wie jedes Werkzeug: Es verändert nicht unsere Eigenschaften. Es verstärkt nur unsere Wirkungen.

Diffuse Befindlichkeiten schäumen in kürzester Zeit zum Massenphänomen auf. Sie er-zeugen neue Realitäten, weder demokratisch legitimiert, noch sachlich überprüft. Macht und Kontrolle treten weit auseinander.

Der Skandal hat hier sein ideales Medium gefunden. Seine Mehrdeutigkeit entspricht dem Schwarmverhalten der Netzbewohner. Sie sind nicht mehr auf die Presse angewiesen. Aus dem scheinbar privaten Hinterhalt kann jeder jederzeit Botschaften streuen und Kommentare abfeuern. Der Angeklagte steht am Pranger, mit Gesicht und Namen. Die Ankläger bleiben hinter ihrer Maske.

Im politischen Kampf um Mehrheiten lässt sich die pünktliche Entdeckung eines Skandals leicht instrumentalisieren. Hochbezahlte Agenturen streichen nicht nur die Pluspunkte des Auftraggebers heraus, sondern auch die Schwächen und Fehler des Gegners. Politiker, die nicht mehr Lösungen, sondern Erlösung versprechen, heiligen gern die Mittel für diesen Zweck. – Warum dann nur der reale Skandal? Warum nicht raffiniertes Skandalieren harmloser Nichtigkeiten. – Das bringt kurzfristigen Erfolg, entwertet jedoch die politische Auseinandersetzung. Begabte Persönlichkeiten fragen sich irgendwann: „Warum tue ich mir das an?“ – Und die Leute sagen nicht zu Unrecht: „Es ist alles Lug und Trug.“

Das bringt mich auf einen letzten Aspekt.

Die Häufung und Dramatisierung von Skandalen könnte auch das Symptom einer Gesell-schaft sein, in der sich politische Apathie ausbreitet.
Wer sich – aus welchen Gründen auch immer – aus der Teilnahme am politischen Ge-schehen verabschiedet, ist nur noch Zuschauer. Er verlernt die erregende und anregende Auseinandersetzung um Ziele, Probleme und Lösungen. Die emotionale Verödung sucht sich ein Ventil. Das findet sie im Skandal. Man hat zwar den Logenplatz, begegnet aber immer nur sich selbst.

Genug als Einstieg. Herr Professor Kocks, Sie haben das Wort.

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