„Kommunikation von Sozialreformen“ – HBRS, 30. Juni 2015

AKTUELLER IMPULS

Der Fall „Agenda 2010“
Was blockiert den öffentlichen Diskurs?
1. Asynchronität von Problem und Bewusstsein
2. Verzicht auf Führung und Stehvermögen
3. Prinzip statt Verantwortung
4. „Sprech“ statt Sprechen
5. Argumentationsarmut
6. Malefiz-Gesellschaft
7. Pluralisierung der Wahrheiten
8. Zerfallserscheinung Internet
9. Krise der Politikberatung
10. „Die da in Brüssel“

Diagnose:
Allgemeine Verunsicherung, Vertrauensverlust und Modernisierungsstau.

Therapie:
Ermutigende Beispiele, historische Gelassenheit, Selbstheilungskräfte des
demokratischen Systems.

Grundsätze pragmatischer Kommunikation
Lernziel – Erfassen, Analyse und Rationalisierung akuter Konflikte bei der Kommunikation sozialer Reformen in der Bundesrepublik Deutschland.

Impuls – Aktuelle und gehäufte Kommunikationsdebakel begründen den Verdacht von Störungen und wecken das Interesse an tiefer liegenden Ursachen.

„Agenda 2010“ – Am Beispiel des Umbaus der Wirtschaftsstrukturen und Sozi-alsysteme in den 1990er Jahren (Kabinett Schröder) lassen sich grundlegende Mechanismen beobachten und Erkenntnisse gewinnen. Sie erlauben einen Transfer auf vergleichbare Reformprojekte der gesellschaftlichen Infrastruktur.

Innovation – Entscheidung – Akzeptanz (Thesen)
Sozial-politische Innovationen leiden unter der Argumentationsarmut und Führungsverweigerung der politischen Entscheidungsebene. Sie leiden auch unter dem nervösen Grund-Misstrauen großer Teile der Bevölkerung. Schwere Krisen der jüngsten Vergangenheit führen zum Autoritätsverlust der „Eliten“ und einer anhaltenden Verunsicherung. Beides geht einher mit einer erodierenden Streitkultur. Wichtige Vorhaben werden auf dem Verwaltungsweg formal verzögert, durch mediale Erregungskampagnen zerpflückt und durch Gruppeninteressen blockiert. Man kann die eigenen Projekte nicht mehr durchsetzen, wohl aber die der anderen ausbremsen (Malefiz-Gesellschaft). Damit drohen vermeidbare Defizite bei der Anpassung der sozialen Infrastruktur an die großen Herausforderungen der nahen Zukunft..

Symptomatik – Sind diese Thesen empirisch belegt? Gehen die Erscheinungsformen über die üblichen Auseinandersetzungen bei gesellschaftlichen Zielkonflikten hinaus? Welche Symptome und „Laborwerte“ lassen sich erkennen und beschreiben? Sind sie endogener oder exogener Natur?

Diagnose – Ergibt sich daraus ein zutreffendes Bild? Welches sind die tieferen Ursachen?

Therapie – Welche Möglichkeiten sind geeignet, gegenwärtige und künftige Dialogblockaden aufzulösen? Ist langfristig auf der Verhaltensebene ein Wandel denkbar (Beachtung von Erkenntnissen und Methoden der Kommunikationsforschung / Einüben hermeneutischer Grundsätze einer neuen Verstehenskultur)?

Sehr verehrte Damen und Herren,

„Der wachsende Zwang zur Selbsterklärung“ – so betitele ich an Ihrer Hochschule Seminare für angehende Betriebswirte.
Keine Berufsgruppe wird sich dem gesellschaftlichen Dialog, Diskurs und Dis-put entziehen können.
Das wird anspruchsvoller als Pressearbeit, Marketing und Krisenkommunikation herkömmlicher Form.

  • Rund 60 Millionen Youtube-Nutzer sahen das Video eines kanadischen Tech-Bloggers. Der verbreitete, dass sich das iPhone 6 Plus von Apple verbiege. Die Aufregung war immens.Die Firma geriet in Erklärungszwang. Seriöse Tests erwiesen das Ganze als Luftblase. Wie jedes Stahlgehäuse kann man auch das iPhone kalt verformen – aber nur unter größerem Kraftaufwand als zwischen zwei Händen.
  • Das G36 der Bundeswehr büßt unter extremen Bedingungen an Zielgenauigkeit ein. Ein rasch anschwellender Medienhype macht es in der öffentlichen Phantasie zur lebensgerfährdenden Fehlkonstruktion. Der Hersteller war früh gewarnt. Ihm und ein paar Verteidigungsbeamten fiel nichts Besseres ein, als den MAD auf Kritiker ansetzen zu wollen. Mediale Selbstverstümmelung statt Schadensbegrenzung.
  • Die Energiewende wird nur mit dem Ausbau des Hochspannungsnetzes gelingen. Das schwankende Angebot erneuerbarer Energie braucht Verteilung. Kapazitätsstarke Speicher fehlen. Die Modernisierung der Infrastruktur könnte am Widerstand lokaler Gruppen scheitern.
  • Europa wird vom Mutterland der Demokratie Griechenland in eine Zerreißprobe gezerrt. Unterschiedliche Mentalitäten und politische Ideologien rütteln an Grundrechenarten.

Jeder kann Konfliktszenarien hinzufügen.

Medien stehen unter erhöhtem Druck und erhöhen den Druck. Im Verdrän-gungswettbewerb vernachlässigen zu viele ihre Kernaufgaben

• der Gesellschaft ein realitätsnahes Bild zu machen,

• das Relevante vom Beiläufigen zu trennen,

• durch sorgfältige Recherchen Sachverhalte zu klären,

• durch abgewogenen Kommentar den öffentlichen Diskurs zu inspirieren.
Zu oft machen sich die einen zum Erfüllungsgehilfen der Macht, andere zum Machthaber von eigenen Gnaden.

Täglich berichten sie über konflikthafte Zuspitzungen. Die erklären sie selten aus sachlicher Substanz. Darum verlaufen die oft aufgeregt, langwierig und schadensträchtig. Bei vernünftigerem Kommunikationsverhalten der Beteiligten wäre Aufregung und lärmender Streit vermeidbar.

Zunehmende Kommunikationsdebakel wecken den Verdacht, dass sich hinter dem sachlichen Dissens Störungen mit tieferliegenden Ursachen verbergen.

Als unterhaltsame Kapriolen sind sie nicht abzutun. Es geht um ernstliche Herausforderungen der demokratischen Gesellschaft.

Die sind vor dem Hintergrund eines Zivilisationsbruches mit den Stichworten „Globalisierung“, „demografischer Wandel“, „Armutswanderung“, „Digitale Revolution“, „Klimakatastrophe“ nur vage markiert.

BEISPIEL „AGENDA 2010“

Als Annäherung an das Thema erinnere ich mich und Sie an das Projekt „Agenda 2010“ aus den 1990er Jahren. Es war der Versuch des Kabinetts „Schröder“, die Wirtschaftsstrukturen und Sozialsysteme der Bundesrepublik umzubauen, um sie für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fit zu machen.

Ich habe das Projekt aus großer Nähe begleitet. Ich bin durchaus bereit, in der nachfolgenden Diskussion „aus dem Nähkästchen“ zu plaudern. Es wird Ihnen den Schlaf rauben, wie Zufälligkeiten wichtigste Lebensbedingungen eines Volkes prägen.

Am 27. September 1998 wurde die christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl abgewählt. Die Sozialdemokraten erreichten 40,9 Prozent. Gerhard Schröder wurde mit 351 Stimmen bei nur 345 Sitzen der Koalition zum Bundeskanzler gewählt.
Seit den besten Tagen Adenauers war keine Koalition mit so günstigen Voraussetzungen gestartet. Das ließ auf reibungslose Umsetzung schwieriger politischer Projekte hoffen.

Damals galt Deutschland als der „kranke Mann Europas“. Das neue Kabinett machte sich die Wirtschaftspolitik zur Hauptaufgabe. Stichworte waren:
• Flexibilisierung des Arbeitsmarktes.
• Sicherung der Sozialsysteme durch mehr Eigenleistung.
• Abbau der Versorgungsmentalität und Anregung der allgemeinen Initia-tivbereitschaft.
• „Bündnis für Arbeit und Ausbildung“ der Sozialpartner,
• internationaler Benchmark, also die Frage: „Wer hat welches Problem wie gelöst?

Kernsatz der Regierungserklärung vom 10. November 1998 war – ich zitiere:

„Das soziale Netz muss nach unserer Auffassung zum Trampolin werden. Von diesem Trampolin soll jeder, der vorübergehender Unterstützung be-darf, rasch wieder in ein eigenverantwortliches Leben zurückfedern kön-nen. (…)

Die Stärke des Sozialstaates bemisst sich nicht an den Milliarden, die er ausgibt. Sie muss sich beweisen an der Qualität der Leistungen, die (von allen) erbracht werden.“

Die Agenda-Politik geriet in Lager- und Flügelkämpfe, auch der Regie-rungsparteien. In der Sache zeitgemäß und im Ansatz richtig wurde sie unzureichend kommuniziert und so im Sprung gehemmt.

• Es gelang nicht, den Wählern die unvermeidlichen Schmerzen als Wachstumsschmerzen zu vermitteln.
• Das erhoffte Engagement der Sozialpartner schlaffte ab. Jeder sah die eigenen Interessen, nicht den gemeinsamen Gewinn. Die Gewerkschaften wollten, dass eine sozialdemokratische Regierung ihre Regierung ist.
• Die spätere „Basta-Politik“ des Bundeskanzlers war aus der Konstellation verständlich, trieb aber auch Gutwillige von Bord.

Die Agenda-Politik scheiterte in den Köpfen, nicht in der Realität.

Bis heute assoziiert die Wählermehrheit in Deutschland diese Politik der rot-grünen Koalition nicht mit hohem Beschäftigungsstand und geringer Arbeitslosenquote, nicht mit boomender Wirtschaft, Handelsüberschuss und Vertrauen auf die aktive Generation, sondern mit Marktradikalismus, Entsolidarisierung, prekären Arbeitsverhältnissen, Niedriglohn und Rechtsdruck.
Die meisten Probleme entstehen im Kopf. Nicht Sachen erregen uns, sondern Ansichtssachen. Die basieren auf
Kommunikation.

Der kontroverse Diskurs im Öffentlichen Raum ist das wichtigste Instrument einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Er generiert Bewusstsein, Willensbildung, Konsens und Entscheidung. Wenn er durch Fehlverhalten erstarrt oder strukturell eine blockierte Gesellschaft erzeugt, sollten Alarmlampen flackern.

Hier ein kleiner Katalog von zehn möglichen Blockaden – thesenhaft und zugespitzt (mit der Einladung, ihn aus eigener Beobachtung zu ergänzen):

BLOCKADEN

Asynchronität
Partei und Regierung leben mit einem frustrierenden Dilemma: Die Mehrheit entscheidet. Sie wählt oder wählt ab. Verantwortliche Politik hüpft aber nicht von Wahltag zu Wahltag, sondern verfolgt langfristige Ziele.

Soziale Reformen haben eine besonders lange Laufzeit. Sie gehören nicht zur kurzfristigen Ereignisgeschichte, sondern zur langfristigen Strukturgeschichte eines Staates. Schmerzhafte Einschnitte sind zuweilen nötig, z. B. in Verantwortung für die nächste Generation. Die gegenwärtige Mehrheit hat den Schmerz und wehrt sich. Die den Nutzen hätten, stimmen noch nicht ab. Das System befördert Entscheidungen, deren Preis in die Zukunft verschoben wird.

Welche Entscheidung zum Zuge kommt, hängt wesentlich davon ab, wie kommuniziert wurde.

Übrigens: „Der Weg in die Katastrophen ist mit falschen Alternativen gepflastert.“ (Christian Morgenstern). Ich sage gern: Jede Medaille hat zwei Seiten. Achte besonders auf die dritte.

Verzicht auf Führung und Stehvermögen
Beispiel „Renten“. Demografischer Wandel bringt den Generationenvertrag in Schieflage. Höhere Renten und das Rentenalter herabsetzen passt nicht zu-sammen. Das hatte die SPD begriffen. Das Rentenalter wurde heraufgesetzt. Das bringt in allen Umfragen schwere Minuspunkte. Sie kehrte zurück zur Rente mit 63. – Wenn der Blick auf die Charts das politische Handeln bestimmt, ist das Verzicht auf Führungsverantwortung zwecks Schmerzvermeidung.
Die eigene Legitimation korrodiert. Das Problem bleibt ungelöst.
Vorweggenommene Konsensbildung innerhalb der „Volksparteien“ gehört der Vergangenheit an.

Prinzipienmoral
Robespierre, der Herr der Guillotine, bewies: Wer „Menschheit“ sagt, wird uns belügen. Prinzipienmoral ist bequemer als Verantwortungsmoral. Eine Theorie des Fortschritts behindert die Praxis der Fortschritte.

Politik ist die Kunst des Möglichen, nicht des Unmöglichen.

Utopie als Leuchtturm in der Ferne kann nützlich sein. Wehe dem, der versucht dort anzulegen. Der Rheinländer sagt: „Man sollte ein Prinzip so hoch hängen, dass man drunter herkommt.“

„Sprech“ statt Sprechen
Komplexe Lebensverhältnisse und der Schwund allgemeinakzeptierter Maßstäbe machen aus politischer Landschaft vermintes Gelände.
Wir wünschen uns den Politiker mutig, eigenständig und integer.
Den Selektionsvorteil hat aber der lavierende, minderheitsscheue und multiplexe Charakter. Er hat keine Position, sondern Posen. Anstatt einer authentischen Überzeugung übt er sich in Sprechblasen und Wechselschritt.
Reden orientiert sich an der „Sprachregelung“. Sprechen wird zum „Sprech“, wie George Orwell das nannte. Zuhörer merken das und winken ab. – Dazu passt ein weiterer Befund:

Argumentationsarmut
Die Wort „Talk“-Show täuscht. Sie ist fast tägliche, schlichte „Opinion-Show“. Nicht Agorá, sondern Arena. Ihre Gladiatoren werden nach eingeschliffenem Profil ausgewählt. Nachdenkliches Abwägen oder sich vom Argument eines Kontrahenten überzeugen zu lassen, ist Regelverstoß. Der Moderator moderiert nicht. Er sucht den Dissens.

Diese „Gladiatoren-Kommunikation“ hat die Wahrnehmung vom Ziel parla-mentarischer Debatte verdrängt.

Nicht die gemeinsam tragbare Entscheidung ist Zweck, sondern „gut aussehen – Recht haben“. „Recht behalten“ ist weniger wichtig. Das mediale Gedächtnis schwächelt.

Das gesellschaftliche Bewusstsein wurde fast unmerklich verschoben.

Debatten mit dem Ziel der Konsensfindung zu gemeinsam Handeln werden verlernt.

Malefiz-Gesellschaft
„Malefiz“ war ein Brettspiel, wo es nicht darauf ankam, wie beim „Mensch ärgere dich nicht“ selber anzukommen, sondern dem anderen so viel Barrikaden in den Weg zu legen, dass der nicht mehr ankommen kann.

Parteipolitische Lagerkämpfe (und neuerlich auch gewisse Tarifkonflikte) lau-fen nach diesem Muster. Wer dem Kontrahenten reflexartig widerspricht, will nirgendwo hin. Er steht mit Vollgas auf der Bremse. Das Allgemeinwohl bleibt auf der Strecke. – Die Botschaft lautet: „Halt den Mund, wenn du mit mir sprichst!“ Sie vereitelt einen Dialog, der zusammenfinden will.
Ich halte das für systemwidrig, aber es prägt unser gesamtes Denken in er-schreckendem Ausmaß.

Pluralisierung der Wahrheiten bzw. des Für-wahr-gehaltenen

Es war einmal: Man hatte „seine Zeitung“. Schon beim Frühstück, vertraute man ihr einen Großteil seiner Sekundärerfahrungen an.

Die technischen Medien, in denen sich gute Beiträge finden, leben aber von der Millionenflut an Dilettantismus. Klickzahl entscheidet, nicht Qualität. Überzeugungen werden verwechselt mit Befindlichkeiten. Fakten werden häufig beliebig.

Große Zeitungen trauen sich kaum noch einen Standpunkt zu. Es ist bequem, allen Seiten Recht zu geben.

Zerfallserscheinung Internet
Mit dem „www“ ist jede nur denkbare Grenze überschreitbar. Eine fast zeitgleiche Teilnahme an Geschehnissen bisher unbekannter Regionen und Kulturen ist möglich. Ein wunderbares Werkzeug, aber auch Tummelplatz für infame und kriminelle Aktivitäten und für fundamentalistische Konfrontationen. Auf die sind Gesellschaften und Kulturen nicht vorbereitet.
Es braucht neue Regeln, um den Raum für konstruktive Umgangsformen offen zu halten.

Krise der Politikberatung
Symptomatisch erscheint die gesunkene Wertschätzung wissenschaftlicher Beratung der Politik und des öffentlichen Dialogs. Jahresberichte werden ritualisiert abgeliefert. Die Politik nimmt sie gelangweilt entgegen. Sie fühlt sich eher gestört.

Zu wenige sind bereit, ihre Meinung von Fakten widerlegen zu lassen. Zugegeben: Das Vertrauen in die Ergebnisse wurde auch durch wuchernden Lobbyismus zerstört, der seine Hochglanzmappen gern mit bestellten Gutachten schmückt.

„Die da in Brüssel“
Entscheidungen auf EU-Ebene werden von den Regierungschefs der 28 Mitgliedsländer getroffen. Es gibt Gewinner und Verlierer. Erfolge rechnet man sich selber zu. Niederlagen schiebt man auf Brüssel: eine ständige Abwertung.

Dazu passt: Nationale Projekte, die man im eigenen Land nicht durchsetzen oder nicht verhindern kann, spielt man „über die Bande“ der EU-Institutionen.


EIN ZWISCHENFAZIT

Wir beobachten ein allgemeines Gefühl der Verunsicherung, ein nervöses Grund-Misstrauen großer Gruppen.

Die schweren Krisen der jüngsten Vergangenheit führten zu Autoritätsverlust der sogenannten „Eliten“. Wichtige Vorhaben kommen nicht zur Entscheidung, werden auf dem Verwaltungsweg formal verzögert, durch mediale Erregungskampagnen oder Trillerpfeifendemokratie zerpflückt oder trotz theoretischer Zustimmung durch konkrete Gruppeninteressen blockiert.

Der Vorgang hat etwas von „Auto-Immunabwehr“. Der Körper wehrt sich gegen sich selbst.

Es ereignen sich irritierende Missverständnisse und emotionaler bis irrationaler Widerstand gegen soziale Projekte, deren Vernünftigkeit bei klarem Verstand einsehbar wäre.

Die Auflösung der klassischen Milieus, die globale Mobilität, die Ökonomisierung fast aller Bereiche und eine ungesicherte Lebensplanung bei gleichzeitigem Glücksanspruch und dem drängenden Bedürfnis, die Relevanz der eigenen Person bestätigt zu fühlen, verändern die Spielregeln des gesellschaftlichen Konsenses.

Wir erkennen Modernisierungsstau. Der Reform-Druck steigt. Der Reform-Mut sinkt, – von Reform-Eifer ganz zu schweigen.

ES GIBT HOFFNUNG

Meine Damen und Herren,
bevor ich Sie nun durch zu viel Schatten suizidgefährde, will ich konzedieren, dass es lichte Signale gibt.

Irland z. B. hat sich durch konsequente Askese und Strukturentwicklung aus dem Sumpf der Finanz- und Schuldenkrise gezogen. Auch aus Spanien und Portugal kommen positive Lebenszeichen.

Oder eine andere soziale Reform: Wer hätte vor fünf Jahren geglaubt, das katholische Italien oder Irland würden sich so deutlich zur gleichgeschlechtlichen Ehe bekennen? – Manchmal löst sich über Nacht ein Stau. Oft durch Autoritätsverlust alter Institutionen.

Auch in der deutschen Bevölkerung gibt es Gruppen, die soziale Reformen anstoßen: Die Demokratisierung des Energiesektors in kurzer Zeit ist – bei allen Verwerfungen – zweifellos ein erstaunliches Phänomen.

Soziologen haben die „Generation Y“ der Zwanzig- bis Dreißigjährigen untersucht. Die sei mit rationaler Phantasie dabei, sich einen eigenen Reim auf die Welt zu machen. Sie würde dabei durchaus neue Maßstäbe entwickeln. Sie misstraute den etablierten Parteien zu sehr, um schon eine eigene zu gründen.

Wer es nicht zum Optimisten schafft, könnte es mit Gelassenheit versuchen.

Schon immer musste sich Neues mit besonderem Aufwand gegen Altes durchsetzen. Die meisten Kulturen der Geschichte – Religionen sowieso – haben das Neue gefürchtet und den Neuerer bedroht oder verfolgt. Im demokratischen Staat vollziehen sich Reformen langsamer als im autoritären. Das ist auch gut so. Statt Verlautbarung und Befehl geht es in offenen Gesellschaften um „Versuch“ und „Irrtum“. Falsche Entscheidungen sind seltener, wenn sie im Vorfeld diskursiv bearbeitet werden. Sie stiften einen vergleichbar geringen Schaden, weil sie früher erkannt und revidiert werden können.

Der Öffentliche Raum, wie ihn Habermas definierte, ist nur so groß wie die Bürger ihn beanspruchen. Der kontroverse Dialog, der die Positionen klärt, aber die Schnittmengen sucht, erzeugt einen Überfluss an Alternativen. Man kann die hoffentlich bessere wählen.

Dieses Erfolgsgeheimnis des demokratischen Gesellschaftsvertrags ist kein gesicherter Besitz. Jede Generation muss ihn für sich neu behaupten. Auch soziale „Muskeln“ können durch Nichtgebrauch atrophieren.

Wie könnten wir dem entgegentreten? – Auf jeden Fall mit einem besseren…

KOMMUNIKATIONSVERHALTEN.

Wir unterscheiden grob verbale und nonverbale Kommunikation. Bei fehlender Übereinstimmung schwinden Authentizität und Glaubwürdigkeit. Ein Apostel, der Wasser predigt, aber Wein trinkt, wird bald einsam.
Wir unterscheiden auch grob vier Ebenen der Kommunikation:
• Die Sachebene vermittelt Informationen und Fakten. Sie sind entweder falsch oder richtig.

• Die Selbstoffenbarung vermittelt Auskünfte über die Person, ihre Inte-ressen, ihren Charakter, ihr Temperament.

• Der Appell ist der Teil der Botschaft, der vom Gegenüber eine Reaktion oder ein Ergebnis erwartet.

• Der oft wichtigste Faktor ist die Beziehung zwischen Sender und Emp-fänger. Sie entscheidet über die Annahme oder Ablehnung der Bot-schaft. Sie ist mehrdeutig und wandelbar. Gegenseitiges Vertrauen geht schnell verloren und ist schwer zurückzugewinnen.

Wer soziale Reformen kommunizieren will, muss alle vier Ebenen beachten. Andernfalls braucht er sich über Widerstand und Misserfolg nicht zu wundern.
Weitere Aspekte kommen hinzu, die den Kommunikationsprozess erleichtern oder – bei Missachtung – stören.

Argumentative Kommunikation gelingt nur dann, wenn man die logischen Ebenen auseinanderhält. „Veränderung“ ist was anderes als „Wandel“. Wer z. B. per Anordnung Angst verbieten will, vergrößert sie. Im Albtraum entkommt man dem Verfolger nicht durch schnelleres Rennen, sondern durch Aufwachen.

Menschen konstruieren ihr Ich-Bewusstsein und Welt-Gefühl aus Erlebnissen, Erfahrungen und Erkenntnissen. Diese füllen den Horizont, in dessen Mittelpunkt sie leben.

Treffen Menschen aufeinander, entstehen große oder kleine Schnittmengen, je nachdem, wie nahe man sich kommt. Wer sie vergrößern will, muss den anderen verstehen. Das ist nicht nur Methode. Es ist Haltung. Sie fragt nicht nur nach Ursachen und Gründen, sondern nach Bedeutung und Sinn.

Es geht nicht um „Pro“ und „Kontra“, sondern um die Entdeckung einer Gemeinsamkeit.

Thomas von Aquin formulierte: „Ich darf meinem Meinungsgegner erst dann widersprechen, wenn ich das beste seiner Argumente überzeugender vortragen kann als er selbst.“

Ich bin überzeugt: Erfolgreiche Kommunikation sozialer Reformen gelingt nur über die Einbeziehung der gesellschaftlichen Gruppen als frühzeitige, repräsentative und verstehensorientierte Vorbereitung der möglichen und nötigen Entscheidungen.

Das holländische „Poldermodell“ – der runde Tisch oder die dialogische Komponente des Rheinischen Kapitalismus – bieten kluge und erprobte Muster.

Wir müssen eigentlich nichts Neues erfinden, sondern nur „zurück in die Zukunft“.

Im Bonner „Haus der Geschichte“ sah ich am Ende des Parcours einen Kurzfilm.

Der lief als Endlosschleife auf dem Bildschirm. Er zeigte eine frei im Raum schwebende Platte. Auf der befanden sich verschiedene Leute: Frauen, Män-ner, Junge, Alte, Einzelne und Gruppen.

Jede Bewegung eines Einzelnen erzeugte eine Schwankung der Platte. Auf die mussten alle anderen reagieren. Ein fragiles Gleichgewicht, aber nur so war für alle gesorgt, und niemand stürzte ab.

Ich danke Ihnen.

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