„Die Rolle des Skandals in der Politik“ mit RA Götz-Werner von Fromberg – Uni Bonn, 17. Juni 2015
Meine Damen und Herren, lieber Herr von Fromberg,
unser Gast leitet eine große Anwaltskanzlei in Hannover. Mit seinem Namen sind Prozesse verbunden, die zum Teil nachhaltige Veränderungen in der Rechts- und Gesetzeslage bewirkten. Ihm ist sogar das fast Unmögliche gelungen, die Hell‘s Angels zu domestizieren. Ein gewisser Gerhard Schröder war sein Kompagnon. – Ich bin gespannt, was er zu unserem Thema sagen wird.
Ein Problem haben wir nicht: Es fehlt nicht an Beispielen. Auch die seriösen Medien – die unseriösen sowieso – bringen den täglichen Skandal frisch auf den Frühstückstisch. Ich nenne nur Stichworte wie „FIFA“, Deutsche Bank, Libor, G36, Abhörskandal, NSU-Skandal.
Passieren sie häufiger als früher, oder steigert sich nur ihre Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung? Zerbröselt der Wertekanon der Gesellschaft (Jeder macht, was er will und fragt sich nur noch, ob es rauskommt.), oder zeigt sich just hier eine wachsende Empfindsamkeit, die nicht mehr durchgehen lässt, was früher unterm Teppich ver-schwand?
Schon immer war der Skandal die Würze der Gesellschaft. Manchmal ist er das Ferment, das die Verhältnisse klärt und weiterbringt. Peter Sloterdijk bescheinigt ihm sogar eine identitätsstiftende Wirkung in einer Gesellschaft, der fast alle früheren Gewissheiten ab-handen gekommen sind.
Ich folge einen Moment lang seinem Gedankengang.
Wir haben es in der Bundesrepublik mit 80 Millionen Menschen zu tun. Das kann man sinnvollerweise nicht mehr „Volk“ nennen, sondern nur noch „Bevölkerung“. Was sollten diese 80 Millionen gemeinsam haben? Wer da noch mit Begriffen wie Sprachnation, Bil-dungs- und Kulturnation hantiert, begeht Etikettenschwindel. Innerhalb unserer Staats-grenzen versammelt sich eine ungeheure Vielfalt an Ethnien, Bewusstseinsstufen und Lebensentwürfen.
Eine Integrationswirkung erzeugen nur noch die Massenmedien, zeitweilig und stellen-weise. Die Bindekräfte kommen aber nicht aus dem Innern, sondern werden von außen hineininjiziert, indem man ständig „Erregungsvorschläge“ produziert, die man dem Publi-kum unterbreitet. Dieses genießt sein Privileg, aus der Fülle des Angebots auszuwählen, nicht anders als im Supermarkt.
Vor diesem Hintergrund ist der Skandal nicht mehr Sachverhalt, sondern Methode. Da alle Tabus gebrochen sind, übernimmt er die Ausbildung von Kollektiv-Mentalitäten. Er testet die gemeinsame Erregbarkeit. Sloterdijk spricht von einem „Eichungsprozess“ und vergleicht ihn mit dem Theater früherer Zeiten. Wer nicht an derselben Stelle lachte oder in der Tragödie „Schauder und Jammer“ (Aristoteles) empfand, der gehörte nicht dazu. Diesen Effekt können nur noch Massenmedien erzeugen, weil sie als einzige 100 Millionen oder mehr relativ gleichzeitig erreichen können.
Das ist nicht prinzipiell neu. In größerer Dichte und Breite gibt es Skandale seit dem Auf-kommen der Druckerpresse und der Lesefähigkeit des Bürgertums. Schon die ersten Flugblätter zeigten neben der Sensation auch die Grenzüberschreitung – etwa zwischen dem adeligen Thronfolger und dem hübschen Bürgermädchen oder zwischen Kirche und Ketzer. Wer zu hoch aufstieg in der geschichteten Gesellschaft, konnte tief stürzen. Es gab den Münzskandal, wenn die Währung manipuliert wurde. Es gab den Justizskandal. Und es gab den Sündenbock als eine Art „Reset-Taste“ für kollektive Schuldgefühle.
Die Presse war schon immer in der Versuchung, Irrelevantes aufzuschäumen. Heute ste-hen ihr dafür enorme Möglichkeiten zur Verfügung. Da sich das Zeitbudget der Menschen kaum vergrößert, herrscht ein scharfer Verteilungs- und Verdrängungswettbewerb.
Jeder will der Erste sein, nicht unbedingt der Beste. Also ist man oft nur der Erstbeste. Das führt zu Übertreibung und Dramatisierung. Es genügt nicht mehr, den tatsächlichen Skandal zu entdecken. Man übt sich auch im Skandalisieren harmloser Auffälligkeiten.
Seitdem in den USA entdeckt wurde, wie wirksam man damit den politischen Gegner de-montieren kann, gehört dieses Thema zur Dämonologie der Wahlkämpfe. Es erodiert die politische Kultur, die gerade in der Demokratie ein kostbares Gut ist. Es schreckt begabte Persönlichkeiten ab, den politischen Weg zu beschreiten und bietet den robusteren Machtspielern einen Selektionsvorteil.
Mit dem Internet haben wir eine neue Stufe der technisch-kommunikativen Zivilisation betreten. Ob sie aufwärts oder abwärts führt, lasse ich dahingestellt. Aber das ist gewiss: Die Multipolarität des neuen Mediums, seine unmittelbare Nähe zu den Ereignissen, seine ubiquitäre Verfügbarkeit weltweit und seine Unfähigkeit zum barmherzigen Vergessen sind ein Quantensprung mit noch nicht absehbaren Folgen.
Die Sozialen Netzwerke erlauben es jedem Teilnehmer, sich unmittelbar, anonym und verantwortungslos zu äußern. Diffuse Befindlichkeiten kleiner Gruppen werden in kürzester Zeit zum Massenphänomen. Es entstehen neue Realitäten, die sich weder demokratisch legitimieren, noch durch professionelle Analyse und Gewichtung in ihrem Wahrheitsgehalt überprüft wurden. So gelangen frühreife oder nichtige Themen auf die politische Agenda.
Der Skandal hat hier sein ideales Medium gefunden. Die ihm wesensnahe Unschärfe ent-spricht dem Schwarmcharakter der Internetkommunikation. Die neue Öffentlichkeit geht einher mit einer neuen Anonymität. Aus dem scheinbar privaten Hinterhalt kann jeder jederzeit Botschaften streuen und Kommentare abfeuern, deren Wirkung sich der öffentli-chen Kontrolle oder Steuerung entziehen. Der Angeklagte steht am Pranger. Die Ankläger bleiben hinter ihrer Maske.
Der Skandal spielt also eine irrlichternde Rolle in Politik, Wirtschaft und Kultur. Er entzieht sich allen Versuchen, ihn in einer schlüssigen Theorie zu erfassen und damit zu steuern. Oft gibt es einen dramatischen Unterschied zwischen seiner tatsächlichen Substanz und ihrer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Er tummelt sich im Graubereich gesellschaftlicher Zustände, die Paragraphen und Gesetzbuch nicht abdecken.
Das zeigt sich, wenn das Ereignis gerichtsanhängig wird. In der Regel schrumpft der justitiable Anteil fast gegen Null und steht in keinem Verhältnis mehr zum Schlagzeilengewitter und Talkshow-Getöse, mit dem es wochenlang die Gesellschaft beschäftigte.
Ich finde das eigentlich tröstlich – und paradox zugleich. Es ist ein Merkmal der offenen Bürgergesellschaft, die – anders als autoritäre Systeme – einen großen Reichtum an Alternativen des sittlichen Verhaltens duldet. Wir reagieren auf Verletzungen von Normen deshalb so heftig und theatralisch, weil wir nicht mehr wissen, sondern meinen. Was außer Zweifel steht, muss niemand wütend verteidigen.
Genug als Einstieg für unser Treffen. Lieber Herr von Fromberg, wie sehen sie die Rolle des Skandals in der Politik?