„Vertrauensverlust en gros?“ – Handelsblatt, 12. Juni 2015
Vertrauensverlust en gros?
Eine Meinung von Bodo Hombach
Das Eurobarometer der EU-Kommission misst Erschreckendes: Dramatischer Vertrauensverlust in die Institutionen! Zwischen 2007 und 2013 stieg in den sechs größten Mitgliederstaaten das den Demoskopen gestandene Misstrauen des Volkes um enorme Prozentsätze (Polen von 18 auf 42, Italien von 28 auf 53, Frankreich von 41 auf 56, Deutschland von 36 auf 59, Großbritannien von 49 auf 69 und Spanien von 23 auf 72 Prozent).
Innerhalb der Staaten zeigt sich Ähnliches, wenn man das Ranking bestimmter Berufe untersucht. Die klassischen „Eliten“ sind Absteiger der vergangenen zehn Jahre. Fast scheint es ehrenrührig, sich in ihrer Gesellschaft zu zeigen. Hohe Vertrauenswerte erreichen nur noch Feuerwehrleute und Krankenschwestern.
Eine Götterdämmerung solchen Ausmaßes ist mit bloßen Zahlen nicht ausreichend beschrieben. Es lohnt sich, die Linse nachzuschleifen und genauer hinzuschauen.
Als der Schwindel um die Hitler-Tagebücher aufflog, stürzte die Auflage des „Stern“ um 200.000 Exemplare ab. „Nun gut“, sagt der lesende Normalverbraucher, „von sowas kommt sowas.“ – Merkwürdig war allerdings: Es traf nicht nur den „Stern“ im Epizentrum des Bebens. Die Druckwelle überrollte sämtliche Blätter ringsum. Die ganze Branche wurde in Mitleidenschaft gezogen. Man tat nicht das Naheliegende („Auf die ist kein Verlass mehr, also lese ich was anderes“), sondern nahm alle in Sippenhaft. Die Presse insgesamt und überhaupt war beschädigt.
Ähnliches erleben die Kirchen an einander. Ein Eklat oder Skandal bei den Katholiken erschreckt auch die Evangelischen; weniger aus Entsetzen über die Verfehlungen ihrer christlichen Glaubensgeschwister, sondern weil nun auch bei ihnen die Austrittszahlen anschwellen. Ähnliches erleben die Parteien. Es genügen ein paar unteroptimale Repräsentanten, und in den Ortsvereinen hagelt es Mitgliedsbücher. Wer demnächst noch wählen geht, wird im Wahllokal einsamer. Draußen fragen fröhliche Sonntagsspaziergänger: „Was ist denn in den gefahren?“ Sie fühlen sich in der Mehrheit und auf der Höhe der Zeit.
Das muss Gründe haben, die über die Anlässe hinausgehen. Es hat etwas von „Befreiungsschlag“. Die Mühsal des Differenzierens ist unpopulär. Sachliche Analyse, pragmatisches Abwägen und dann vielleicht konstruktives Bearbeiten des Problems kommen kaum mehr in Frage. Es geht immer aufs Ganze und sofort. Dort, wo demokratisches Verhalten und republikanischer Stolz überhaupt erst beginnen: bei der kritischen Unterscheidung, die sich von niemandem dummschwätzen lässt, tauchen zu viele kollektiv ab in die kindliche Pose ganzheitlichen Schmollens.
Die konkrete Erscheinung wird verwechselt mit dem allgemeinen Begriff. Fehlverhalten einzelner Politiker bringt Demokratie „schlechthin“ in Verruf. Eine träge Behörde oder ein bürokratischer Wildwuchs, und das „ganze System“ erscheint marode. Populisten und Ideologen wittern Morgenluft. Ihr Rezept heißt „Tabula rasa“. Nach Risiken und Nebenwirkungen fragen wenige. Es geht ja um die Menschheit, nicht um die Leute. Die Geschichtsbücher sind voll von Gruppen und Grüppchen, die sich plötzlich für die Menschheit hielten. Spätestens seit Robespierre wissen wir: Wer „Menschheit“ sagt, will uns belügen, und die Guillotine hat er gleich mitgebracht.
Wir wollen flache Hierarchien und kontrollierte Macht, aber das Niedermachen als Selbstzweck ist kein Ausdruck von Emanzipation. Es ist der Verzicht auf Diskurs und kleine Schritte. Es hinterlässt ein Vakuum, in das dann Interessen strömen, die sich den Teufel um ihre Legitimierung kümmern. Es ist letztlich die Aufgabe von Freiheitsrechten, die nur im Ausdauertraining lebendig bleiben. Bei der Bürgerschaftswahl in Bremen hat die Partei der Nichtwähler 43 Sitze erobert. Sie verzichtete darauf, sie zu besetzen.
Sozial-Historiker konstatieren Analogien zur römischen Spätantike. Die von den Cäsaren vernichtete Individualgesellschaft ist nur noch Masse. Ihr Ort ist nicht mehr der olympische Sportplatz als Austragungsort fairer Wettkämpfe, sondern die Arena als Sinnenkitzel und Hinrichtungsstätte. Unablässig machen Sprechchöre, Singsang und Laola-Wellen die Runde. Wer die Masse nicht mehr amüsiert, vielleicht, weil er den Finger auf die Wunden der Gesellschaft legt, oder weil er selbst verwundet am Boden liegt, ist erledigt. Es genügt der massenhafte Klick auf den Abwärts-Daumen, um sein Schicksal zu besiegeln.
Zweifellos spielt das Internet eine Rolle. Der ständige Flashmob auf den Bildschirmen, die totale Präsenz des Virtuellen, die Primärerfahrungen fast zum Störfall macht, verstärken und verzerren die Wahrnehmung der Realität. Unzählige „User“, die von morgens bis abends an ihrem Smartphone nuckeln, verzichten auf die Chance, sich die Relevanz und Substanz von Ereignissen durch professionelle und verantwortliche Journalisten erkunden zu lassen. Sie kaufen lieber eilig Aufgeregtes statt Anregendes und schimpfen dann auf die Lügenpresse.
Das reflexartige Bashing von Individuen oder Gruppen der Gesellschaft, die Kontur zeigen, die hervorragen, weil sie ein wichtiges Projekt und einen guten Gedanken haben und sogar bereit sind, dafür gegen den Wind zu kreuzen, ist eine Art Selbstverstümmelung, die sich keine Gesellschaft auf Dauer leisten kann. Nur ein Teil der Bevölkerung ist in der Lage, Überblick und Fernblick zu entwickeln, Initiativen zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen. Die sind immer in der Minderheit. Wenn sie nicht mehr zum Zuge kämen, weil sie auch gelegentlich Fehler machen, würde Omas Sinnspruch gelten: „Wer nichts macht, macht keine Fehler“ – eine Horrorversion.
Wohlgemerkt: Manche Vertreter der sogenannten „Eliten“ haben mehr als genug Vertrauen zerstört. Aber in einer hochkomplexen Zivilisation geht es nicht ohne. Wer Vertrauen zerstört, zerstört mehr als Vertrauen. Es braucht mehr als Vertrauen, um es zurückzugewinnen. Der „Wut-Bürger“ ist die falsche Reaktion. Der „Zorn-Bürger“ wäre richtiger. Der Wütende wirft sich schreiend und strampelnd auf den Boden. Der Zornige steht auf. Er weiß, wovon er redet, hat gute Argumente und eine abgewogene Meinung. Der Wütende will einfach nur „sein“, jetzt und hier. Der andere ein Ziel erreichen. Er hat eine kreative Strategie und eine unruhige Geduld. Der Wütende hatte im Grunde nie Vertrauen, sondern nur Vertrauensseligkeit. Deshalb reagiert er nicht mit Protest oder wenigstens Trauer, sondern mit theatralischem Rundum-Beleidigtsein. Was der verliert, ist kein Verlust, sondern eher Gewinn. Es könnte sogar die Voraussetzung für den längst fälligen und bitter nötigen „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit sein“ (Kant). Es wird aber eher das Scheunentor für künftige Verführer werden.
Das Lebenselixier der Demokratie sind freie, gleiche und geheime Wahlen. Es ist der sensationelle Gedanke des alten Solon: Wer unter Missbrauch der Macht zu leiden hat, soll die Inhaber der Macht wählen und abwählen können. Es gibt jedoch ein weiteres Mittelchen des demokratischen Wohlbefindens: Das Amt ist wichtiger als sein Inhaber. Der darf es nicht besitzen. Das Amt hat die Würde. Der Mensch hat nur die Funktion. So gesehen steckt in der beschriebenen Problematik auch ein Quantum Trost. Wenn Amtsträger durch Fehlleistungen und Charakterschäden ihren Nimbus verlieren, könnte das Amt den seinen zurückgewinnen.
Professoren, Richter, Ärzte, Minister oder Journalisten müssen sich nicht um die Siegespalme auf einer Beliebtheitsskala bewerben. Sie müssen ihren Job können. Das ist schon alles, und es ist sehr viel. Wer ein Flugzeug besteigt, über eine Brücke fährt oder sich auf den OP-Tisch legt, fragt nicht nach „every body’s darling“, sondern nach dem Spezialisten, der weiß, was er tut.
„Do it yourself!“ ist nämlich nicht immer die Lösung. Ich sah einmal eine Karikatur: Sechs Blinddarm-Patienten lagen in ihren Betten vor dem Fernseher, jeder mit dem Skalpell in der Hand. Dort lief der Selbsthilfe-Kurs „Blinddarm“, und gerade sagte der dozierende Chirurg: „Wir kommen nun zum Schnitt.“