„Jugend und Islam“ – BAPP, 28. Mai 2015
Verehrte Frau Prof. Dr. Rétif,meine Damen und Herren,
ich habe das Gefühl, ein Thema von großer Relevanz und Brisanz zu berühren. Ich mit viel größerer Neugier auf ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Meinungen gekommen als mit eigenem Mitteilungsbedürfnis.
In Frankreich und Deutschland – auch anderswo – beobachten wir eine Radikalisierung muslimischer Mitbürger.
• Zum Teil als endogene Folgen: ungelöster interner Probleme der internen muslimischen Gemeinde, der Familien, der betroffenen Jugendlichen;
• zum Teil als exogene Folge: ungelöster Probleme der Gesellschaft – Stichwort „Integration, Ausbildung, Arbeitswelt.“
Beides erzeugt Druck auf die Mehrheitsgesellschaft. Dem erliegen bestimmte Gruppen. Sie suchen ihrerseits:
• endogen: für eigenes Versagen und xenophobische Befindlichkeiten eine Gefühlsentlastung, oder
• exogen: Probleme der Gesellschaft wie Marginalisierung und Abstiegsängste werden auf muslimische Mitbürger projiziert.
Auf beiden Seiten finden Demagogen fruchtbaren Nährboden,
• seien es pseudo-religiöse und zu oft ferngesteuerte Fanatiker in Hinterhof-Moscheen,
• seien es rechtsextreme Ideologen. Die sorgen sich plötzlich als Biedermänner und Brandstifter um das „christliche Abendland“.
Die Spannungen sind besonders auffällig in deutschen und französischen Großstädten. Das großartige Paris ist immer ein unvergleichlicher Sonderfall. Und im Fokus stehen meist männliche Jugendliche.
Ich will unserem Gespräch nicht vorgreifen. Ich rede im Modus von Beobachtungen und Thesen. Nicht in fertigen Schlüssen.
Der Kulturwissenschaftler Hamed Abdel-Samad konnte als ägyptischer Student in Deutschland Fuß fassen. Er sagte einmal:
„Ich komme aus einem Land, in dem es ein ungeschriebenes Abkommen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft gibt: Du akzeptierst die Regeln, aber auch die Zwänge der Kollektivgesellschaft und stellst sie nicht infrage. Dafür kannst du mit der Solidarität und Anerkennung aller rechnen. Bei jeder Entscheidung steht dir entweder der Vater, der Lehrer, der Imam oder ein Vers aus dem Koran zur Seite. Man ist nie alleine, im positiven wie im negativen Sinne. Die Individualität wird für Geborgenheit und Halt aufgegeben. –
Und dann kam ich nach Deutschland: und stellte fest, dass es auch hier ein ungeschriebenes Abkommen gibt: Du kannst machen, was du willst, aber nerv uns nicht damit. Du bist auf dich allein gestellt, kein Big Brother, kein Ratgeber, und nun: viel Spaß!“
In dieser Beschreibung steckt Erfahrung. Die kann man gefahrlos verallgemeinern. Geborgenheit und Herausforderung sind Vektoren einer gedeihlichen Entwicklung.
Geborgenheit – ist Sicherheit, Versorgung, Trost und Vergebung in einem Netzwerk unkündbarer Beziehungen. Es ist Rückzugsgebiet, Privatsphäre und die Gewissheit, immer wieder neu anfangen zu dürfen.
Herausforderung – ist Konfrontation mit dem Neuen und Unbekannten, Anregung, Abenteuer, Beauftragung und Übergabe von Verantwortung.
Nur in einem ausgewogenen Verhältnis beider Faktoren kann ein junger Mensch starke und selbstbewusste Persönlichkeit entwickeln.
• Ein Zuviel an Geborgenheit und argwöhnischer Abschottung vor den „Gefahren der Welt“ macht befangen, kleinmütig und antriebsarm.
• Zuviel Herausforderung, etwa durch Vertreibung und eine feindselige Umgebung, macht unsicher, ängstlich und aggressiv.
Das wird zum Dilemma für Jugendliche. Die wachsen in ihrer traditionell verharrenden Familie auf, werden aber tagtäglich mit einer ganz anders „tickenden“ Umwelt konfrontiert – in Schule, Freizeit, Medien. Sie bekommen eine Überdosis an Verhaltensrätseln und Demütigungen. Junge Männer, die in ihrer Familie die Prinzenrolle einstudiert haben, reagieren darauf besonders heftig.
Erziehungswissenschaftler sagen uns: Die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit der meisten Jugendlichen sei auf der so genannten „konventionellen“ Stufe. Man orientiert sich nicht wie das Kind an Belohnung oder Strafe. Es gelten Normen und Regeln – auch der wütende Verstoß gegen dieselben. Sie bieten Orientierung. Sie werden verabsolutiert. Es gibt nur Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse. Es gibt noch keine Fähigkeit, zwischen „legal“ und „legitim“ zu unterscheiden. Die Widersprüche des Lebens können diese Jugendlichen noch nicht in Weisheit und Geduld gelten lassen.
Der eine oder andere von uns erinnert sich.
Zur Ambivalenz der Freiheit kommt die Ambivalenz der Religion. Wenn sie die Welt aus einem Punkt erklärt und sich hermetisch abschottet, wird sie ein starres System. Wenn sie nicht helfen, sondern herrschen will, verödet sie die geistigen Möglichkeiten junger Menschen. Alle Probleme, Niederlagen und Frustrationen werden auf die „böse“ Welt draußen projiziert. Man entwickelt ein Feindbild. Man wird Teil eines großen Kampf-Projektes. Es geht gegen die „Ungläubigen“, die Israelis, die Amerikaner oder den Westen. Im schlimmsten Fall endet es in mörderischer Selbstvernichtung.
Orientierungslosigkeit führt zur radikalen Deutung religiöser Glaubensquellen. So gerät ein Islam in den Vordergrund, der sich als Gesetzesreligion definiert. Der sich bemüht, alle Lebensbereiche normativ und kategorisch zu erfassen und zu regeln. Das geht auf Kosten spiritueller und ethischer Inhalte. Die spielen im Koran eine große Rolle. Es gibt den Imam, der nicht über Gottesliebe und Barmherzigkeit spricht. Er spricht nur über Gott als strengen Richter. Der bestraft die Missachtung seiner Befehle unnachsichtig. So können Jugendliche keine eigene Religiosität entwickeln. Dann lernen sie eine Liste von Geboten und Verboten auswendig. Sie fragen sich: Darf ich Musik hören? Darf ich diesen Haarschnitt tragen? Darf ich mich als Mädchen schminken? Sie fragen dann nicht nach der eigenen Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen. – Geben wir zu: wir hatten wir in den christlichen Kirchen ähnliche Probleme.
Wir müssen über Imame reden, die sich als Agitatoren gebärden. Die nur die Kohärenz ihrer Gruppe stärken wollen. Sie hoffen auf verunsicherte Menschen. Die können sie leicht mit einer Illusion von Zusammengehörigkeit versorgen. Erprobte Mittel sind: Sonderabgabe, Kriegsdienst oder Lebensopfer. Peter Sloterdijk sprach mal von der „kriegerischen Vernutzung überflüssiger junger Männer.“
Wir müssen über das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft reden, in der vermischen sich Ahnungslosigkeit, Ressentiments und Vorurteile zu einem gefährlichen Gebräu. Das löst keines der vorhandenen Probleme, verschärft sie aber alle.
Wir müssen über die Rolle der Medien reden. Die liefern uns die prägenden Bilder. Es gibt Bilder der Gewalt. Aber auch die Gewalt der Bilder. Sloterdijk stellt klar, dass es keine verharmlosende Darstellung von Gewalt gibt. Auch keine unschuldige Erinnerung an sie. O-Ton: „Wo immer sie zitiert und abgebildet wird, dort ist sie selbst mit im Spiel. Der Erzähler ist immer ihr Komplize, der Chronist ihr Mitspieler, der Kritiker ihr Partner.“ – Wir wissen, dass auch im Christentum die Gewaltsamkeit der Bilder und des Sakralen eine große Rolle spielte.
Wir müssen über Methoden und Möglichkeiten reden, um gefährliche Regelkreise zu durchbrechen:
• Wie bringt man junge Menschen dazu, starre Denkstrukturen zu verlassen. Damit sie mit sich selbst über ihre Welt- und Gesellschaftsbilder neu verhandeln?
• Wie kann man Moscheevereine öffnen? Sie sollen jungen Muslimen Anerkennung und Nestwärme bieten, ohne sie auf militante Gruppen zu verengen.
• Wie kann man sie für das Projekt eines europäischen Islam begeistern? Es sollte kein Widerspruch sein, gleichzeitig Muslim, Demokrat und deutsch oder französisch zu sein.
• Wie kann man „Bio-Deutschen“ vermitteln, jungen Muslimen nicht permanent das Gefühl zu vermitteln, ein Problem zu sein? – Oft nur, weil sie für eigene Versäumnisse und Niederlagen eine Projektionsfläche brauchen. Die Verursacher inhumaner Verhältnisse halten sich zu oft an den noch Schwächeren schadlos.
Ich bin sicher, am Ende dieser Begegnung klüger zu sein als ich es jetzt bin. – Dafür danke ich Ihnen.
– Lieber Herr Marguier, Sie haben das Wort.