Rede zur Verabschiedung der Polizeipräsidentin Stephania Fischer-Weinsziehr und Einführung des Polizeipräsidenten Frank Richter – 27. März 2015

Liebe Frau Fischer-Weinsziehr,
lieber Frank Richter,
verehrte Damen und Herren,

wir hörten schon gute Töne und Worte. Ein Mülheimer darf mithelfen: der scheidenden Polizeipräsidentin von Essen und dem Nachfolger in den neuen Lebensabschnitt zu helfen. Das muss ich mir selbst erklären. Mit der Polizei hatte ich erstmals vor 47 Jahren zu tun. Ich saß mit anderen auf der Straße – nicht weit von hier. Wir wollten die Welt retten. Die Bild-Zeitung sollte wenigstens verspätet ausgeliefert werden. Das  blockierte Gebäude war später mein Arbeitsplatz – 10 Jahre als Geschäftsführer der WAZ-Gruppe.

Davor traf ich den sehr regen Frank Richter. Er machte aus dem jungen Landtagsabgeordneten Hombach einen Polizei-Lobbyisten. Irgendwann bekam ich ein ausgemustertes Schild und einen zu engen Helm: „Bereitschaftspolizist ehrenhalber“. Das Leben geht originelle Wege.

Lieber Herr Oberbürgermeister, lieber Reinhard. Ich erinnere mich an die Einweihungsparty für einen Laserstrahl auf eurem neuen Rathaus. Der sollte übers ganze Revier den Anspruch Essens als Oberzentrum ausstrahlen. Der Laser hat feierlich, aber kläglich versagt. Ich gestehe dir heute: Etliche Nachbarn verspürten klammheimliche Freude. Das war nicht fein, aber polizeilich unbedenklich.

Die polizeiliche Betreuung meiner Heimatstadt Mülheim aus Essen hat sich am Ende auch unbedenklich entwickelt. Das ist der Präsidentin Fischer-Weinsziehr schon gutgeschrieben worden. Ich will umso freudiger  zustimmen, da ich anfangs Sorge hatte.

Als Europäer überschreiten wir Grenzen. Wer im steifen Wind der Globalisierung bestehen will, braucht feste Wurzeln. Das Bedürfnis nach Heimat und die Bereitschaft zur globalen Öffnung ist kein Gegensatz. Es bedingt einander.

Ach ja – Europa. Am Anfang stand ein krimineller Akt: Ein lüsterner Gott hat sich als Stier verkleidet. Er hat die ahnungslose Jungfrau Europa vom Strand weg ins Meer und an unbekannte Gestade entführt. Das war: arglistige Täuschung, Menschenraub,  Entführung, Unzucht mit Abhängigen und mehr. – Uns sollte nichts mehr wundern, was aus Brüssel oder von den Griechen kommt.

Nun übergibt die Polizeipräsidentin von Essen das Amt an ihren Nachfolger. Das ist Willkommen und Abschied, Rückblick und Ausschau. Ich könnte den Stabwechslern nichts sagen, was sie nicht besser wüssten.

Wie verabschiedet man eine Stephania Fischer-Weinsziehr? – Ich soll nicht in den Modus einer Laudatio schalten. Das hat sie mir verboten. Es wäre auch nicht angemessen. Jemand wie diese Frau würde sagen: Was soll das? Ich habe nur meine Pflicht getan.

Johannes Rau berichtete mal von einem Jubilar. Der soll gesagt haben: „Als ich all die schönen Worte hörte, haben Bescheidenheit und Wahrheitsliebe in mir einen inneren Konflikt ausgetragen. Die Wahrheitsliebe hat gesiegt. Deshalb: Schönen Dank.“

Als Bertold Beitz in Japan eine Auszeichnung bekam, grummelte er: Eine Laudatio kann man nur auf Japanisch ertragen.

Ein Freund sprach in China: Der Dolmetscher übersetzte in Blöcken. Nach den ersten 10 Minuten Rede sagte er: „Der hat nichts Neues gesagt“.  Nach den zweiten 10 Minuten sagte er wieder nur einen Satz: „Der hat schon wieder nichts Neues gesagt“. Nach den dritten 10 Minuten sagte er: „Der wird auch nichts Neues mehr sagen“. Als der Freund nach weiteren 10 Minuten zum Schluss kam, sagte der Dolmetscher: „Ich hatte Recht“.

Das will ich vermeiden.

Deshalb entscheide ich mich für einen kleinen Essay: „Die kleine Theorie des Fahrradfahrens oder die richtige Art, einen Beruf und ein Amt zu haben.“

„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir.“  Der starke Satz des Martin Luther – 1520 in Worms tapfer gesprochen vor Kaiser und Reich.

Vielleicht gibt es einen stärkeren Satz: „Hier – gehe ich. Ich kann auch anders. Gott helfe euch!“ Wer nur steht, kann leicht umfallen. Mindestens schwanken sollte er können – beim Windstoß biegsam Gegendruck aufbauen. Physiker und Biologen wissen,  dynamisches Gleichgewicht ist zäher als statisches.

Auch ein Amt ist kein Standort, sondern ein Weg – es ist keine Linie, auf der man ängstlich und mühsam balancieren müsste. Es ist kurvenreicher Parcours mit Überraschungen und Entdeckungen. Der geht durch unbekannte Landschaften.

Die Metapher vom Fahrradfahren – als Hommage an eine bekennende Münsteranerin – beginnt mit dem Risiko: Man nimmt Anlauf. Man springt ab vom sicheren Untergrund. Man vertraut sich zwei schmalen Rädern und einem wenig stabilen Gebilde aus Rohr, Draht und Gummi an. Jedes Mal ein Sprung in geheimnisvolle, schwer durchschaubare Physik. Man hofft, dass sich Sir Isaac Newton nicht irrte.

Man kann es nicht von Anfang an. Man muss es lernen. Jemand muss einem auf die Sprünge helfen –  das nötige Vertrauen geben. Vielleicht muss man es nicht wirklich lernen. Eigentlich kann man es schon. Man weiß es nur noch nicht. Ein guter Lehrer erzeugt keine neuen Kräfte. Er weckt längst vorhandene. Nun trampelt man los. Plötzlich bewegt man sich in einem neuen, spannungsreichen Zustand. Es ist ein ständiges Pendeln um die Mitte. Es ist eine Art langgezogener Sturz in Richtung Ziel.

Wer voran will, muss Erreichtes ständig zurücklassen. Er sollte nicht nur auf das Vorderrad starren, sondern einen fernen Punkt im Auge behalten. Wer sich ängstigt, ist in Gefahr. Wer um jeden Preis auf Sicherheit setzt, wer gar stehenbleibt, wird zur komischen Figur. Er kommt ins Trudeln und stürzt. Der einzig mögliche Weg ist ein Pendelkurs zwischen Zweifel und Gewissheit. Man braucht zuversichtliches Vertrauen. Fanatiker und Ideologen müssen diese Art der Fortbewegung hassen.

Ein Radfahrer ist nie „im“ Raum, sondern immer „in den Raum hinein“. Er ist beständig, aber in beständiger Bewegung. Schnell genug, um ein fernes Ziel zu erreichen. Langsam genug, um das Unscheinbare am Wegrand nicht zu übersehen. Der  Weise lernt aus Fehlern. Er lässt – biblisch gesprochen – Unkraut mitwachsen. Er ahnt: Auch das Gegenteil der Wahrheit ist nicht ganz falsch. Goethe hatte dafür ein robusteres Wort: „Die Flöhe und die Wanzen / gehören mit zum Ganzen.“

Wer nicht aufpasst, gerät in die Schmalspur-Rille einer „Laufbahn“. Er hat Mühe, wieder herauszufinden. Mancher hält das Hamsterrad für eine Karriereleiter.

Zuweilen liegen spitze Gegenstände im Weg. Es knallt, und „die Luft ist raus“. Man hat sein Flickdöschen dabei. Unter Wasser findet man schnell die undichte Stelle. Man klebt ein Gummipflaster drauf (vorheriges Aufrauen der Umgebung nicht vergessen!). Die Pumpe sorgt für neue elastische Spannkraft. Das Rückgrat soll ja keinen Schaden nehmen…

Am Wegrand stehen Aufpasser, Anstoßnehmer und Wadenbeißer. Der „freilaufende“ Radfahrer fährt ihnen lachend davon. Er ist der „Käfighaltung“ entkommen. Er verzichtet längst auf Stützräder. Er lässt sich den Fahrtwind um die Ohren sausen.

Er lebt so, dass es sich am Ende seiner Tage gelohnt haben wird. Wie er sein Können von Vorgängern übernahm, so reicht er es freigiebig weiter. Es ist ein Instrument, auf dem er gespielt hat. Auf dem werden andere spielen, mit neuen Tönen und Melodien.

Er ist Wanderer zwischen Welten. Er kann Gräben schließen und Brücken bauen. Er leuchtet düstere Winkel aus und fördert grenzüberschreitenden Verkehr des Geistes. Er weiß: Einen guten Weg zu beginnen ist besser als hundert schlechte zu vollenden.

Dabei stört ihn auch Zweifel nicht. Der ist sein Pacemaker. Der hält ihn wach und jung. Überhaupt: Das Ganze ist gesund. Es bringt den Kreislauf in Schwung. Es trainiert das Gleichgewichtsorgan und die Feinmotorik. Es ist nicht nur Beruf und Amt: Es ist das Leben.

„Das Gegenteil der Wahrheit ist auch nicht ganz falsch.“ Das erscheint mir wie die Quintessenz meines Berufslebens. Ich vermute: das gilt auch für eine Polizeipräsidentin.

Sie muss für Recht und Ordnung sorgen. Sie weiß, dass sie damit nie ans Ende kommt. Widerspruch und Zweifel sind ihre Begleiter. Sie dürfen ihr Handeln nicht lähmen. Sie kennt die Paragrafen, aber sie kennt und liebt auch das Leben.

Von Talleyrand stammt die kluge Bemerkung: „Eine gute Verfassung ist eine kurze Verfassung.“ Das Wichtigste ist, was drinsteht. Das Zweitwichtigste ist, was nicht drinsteht.

In einem lebendigen Rechtsstaat bleiben die Konturen der Ordnung weich. Die Formeln gehen nicht restlos auf. Das zeigt die Rechtsgeschichte: Ständig verändert sich das Umfeld. Das Neue gerät in Widerspruch zum Gewohnten. Die Mehrheit der Bürger duckt sich. Dann nimmt einer Anlauf und springt über den Zaun. Er riskiert Sanktion. Das Recht macht möglicherweise einen Schritt nach vorn.

Den guten Polizisten kann man nach dem Weg fragen. Ein guter Richter öffnet Türen.

Der Verpackungskünstler Christo hatte in den USA ein Projekt. Leute wollten es per einstweiliger Verfügung abbrechen. Der Richter schaute ins Gesetzbuch. Er gab ihnen Recht. Er teilte aber mit, heute sei schon Feierabend, morgen sei ein Wochenende, der Gerichtsdiener sei im Urlaub, aber am soundsovielten des Monats werde der Spruch vollzogen. – Das war der geplante Abbautermin.

Kinder lieben Störungen und Hindernisse, vor denen sich Alte fürchten. Wir hassen (oder lieben) nur etwas, das in uns selber sitzt. Goethe bekannte einmal, er kenne kein Verbrechen, dessen er sich nicht unter bestimmten Umständen für fähig hielte.

Wir sprechen vom fehlerfreundlichen Denken. Es bleibt offen für Chancen und Entdeckungen. Die liegen hinter den Irrtümern und Sackgassen. Das scheint mir Merkmal polizeilichen Handelns. Ganz anders als das des militärischen.

Erich Kästner schrieb Ordnungsmächten des Staates einen Vierzeiler ins Stammbuch:

Rat für Damokles

Schau prüfend himmelwärts. / Die Nähe des möglichen Schadens / liegt nicht in der Schärfe des Schwerts, / sondern in der Dicke des Fadens.

Liebe Frau Fischer-Weinsziehr, lieber Frank Richter,

ich beende die kleine Theorie des Fahrradfahrens. Ich bin sicher, Sie beide beherrschen diese Kunst. Bekanntlich verlernt man sie nie. Morgen geht’s weiter, auf neuen Wegen, aber mit dem alten Schwung. Schwingen Sie sich auf den Sattel und treten Sie die Pedale! – Wir alle wünschen eine gute Fahrt.

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