„1990-2015: 25 Jahre Wiedervereinigung: Jetzt Verantwortung für Europa übernehmen“ – BAPP, 20. Januar 2015

Verehrte Damen und Herren,

diese Veranstaltungen laufen seit Beginn erfreulich planvoll. Die gestrige Alternative: Absage oder Verschiebung hat uns kalt erwischt. Wir haben uns für die Zumutung einer Verschiebung entschieden. Schön, dass Sie trotzdem gekommen sind.

Ein großer wie Hans Dietrich Genscher ist durch einen winzigen Virus intensiv gelegt. Wir wünschen von hier: vollständige und gute Genesung. Er freut sich, dass mein Chef – nach Rau und vor Schröder – Wolfgang Clement für ihn einspringt. Er kennt dessen klare europäische Perspektive. Ich freue mich auch und danke für die hilfreiche kurzfristige Zusage.

Mehr als die Hälfte seines Lebens Europaparlamentarier: Elmar Brok kennt als Dienstältester alles: in und von Europa – vor, hinter und auf der Bühne. Wegen seiner Mission ins brenzlige Moldawien verspätet er sich. Er ist gerade in Köln gelandet, wo wir ihn abholen.

Die Universität Bonn verstärkt uns mit einem ihrer Besten. Prof. Dr. Tilman Mayer lehrt Politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte. Als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie und Vorsitzender der Gesellschaft für Deutschlandforschung sind komplizierte Integrationsprozesse seine Spezialität.

Herr Alexander Marguier ist nach journalistischer Bilderbuchkarriere stellvertretender Chefredakteur des meinungsstarken Magazins: Cicero. Der Volkswirt schreibt jede zweite Woche über die Zumutungen des Lebens.

Frau Dr. Hildegard Stausberg ist diplomatische Korrespondentin der „WELT“. Die erfahrene Journalistin und bewährte Moderatorin wird aus unseren Gästen viel Kluges und Erhellendes herausfragen.

Ihnen herzlichen Dank. Wir freuen uns auf Sie.

„25 Jahre Deutschlands Wiedervereinigung. Jetzt Verantwortung für Europa übernehmen.“ Beim Jubel über das Jubiläum ein befragenswerter Querverweis.

Deutschland hat Verantwortung in und für Europa übernommen. So war die Wiedervereinigung erst machbar.

Deutschland hat sich über Europa definiert. Ein größeres Deutschland weckte deshalb keine Ängste vor einem „Großdeutschland“. Einige Leitartikler spielten dennoch damit. Die 2+4 Verhandlungen hielten sich an die politische Realität. Wie hätten die westlichen Freunde etwas verweigern können, was der damalige Kreml-Chef überraschend angeboten hatte!

„Jetzt Verantwortung für Europa übernehmen“ hieße besser: „Jetzt erst recht!“.

1989 war nicht das „Ende der Geschichte“. Die Wiedervereinigung Deutschlands ist vollzogen. Die Wiedervereinigung Europas steht aus. Die ist noch lange nicht unwiderruflich gelungen. Wir erleben einen Stau, der Erreichtes gefährdet.

Ich nenne vier Hausforderungen:

  • Da ist eine merkwürdige Asymmetrie zwischen Newcomern und Altmeistern der EU. Während die einen der Mitgliedschaft entgegenfiebern, zeigen die anderen Ermüdungserscheinungen. Die junge Generation von Baltikum bis Balkan erhofft sich Modernität, Weltoffenheit, globale Marktchancen und Hilfe bei der Bekämpfung schlechter Angewohnheiten wie Korruption und nationalistische Ressentiments.

Viele in den Gründerstaaten fühlen sich gegängelt. Zu viele Bürger wählen nicht – oder wählen solche, die nicht Lösungen, sondern Loslösung versprechen. Die ökonomische Binnenspannung der Gemeinschaft ist gefährlich. Besonders schmerzhaft hat sich das in der Schulden- und Eurokrise manifestiert. Das „griechische Feuer“ ist nicht gelöscht. Bei 50 % Jugendarbeitslosigkeit liegen Verzweiflungstaten in der Luft. Die schwerreiche Schweiz kann die bei Nacht und Nebel vollzogene Scheidung vom Euro nur mit Mühe verkraften. Das arme Griechenland, aber auch das reichere Deutschland, könnten, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen, das kaum verkraften.

  • Der Ukraine-Konflikt bringt an den Tag: Die europäische Friedensordnung, die wir ab 1989 als Dauerleihgabe genießen wollten, beruht auf einem Missverständnis. Der Mann im Kreml sprach von der Unverrückbarkeit der Grenzen. Er meinte anscheinend die Unverrückbarkeit der Einflusszonen. Im Westen empfanden einige die neue Ordnung als Vakuum. Da strömten sie mit alten strategischen Kategorien ein. Wir versäumten, den neuen Zustand als neu-artige Dynamik zu begreifen. Nur ein ausdrucksstarkes Gemeinschaftswerk von Ost und West kann nach dem Kalten Krieg einen Kalten Frieden verhindern.
  • Die Schüsse in Paris und anderswo haben neu bewusst gemacht: Auch das große Europa ist keine Insel. Konflikte in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten haben soziale Ursachen, die sich militärisch gebärden und pseudo-religiös maskieren.

Deutschland hat im vorigen Jahrhundert Experimente gemacht. Die sollte man nicht wiederholen. 70 Millionen Tote und ein ruinierter Kontinent waren ein zu hoher Preis für die einfache Erkenntnis: Lächeln ist besser als Zähnezeigen. Beides ist fatal ähnlich. Auf die Intention kommt es an.

Was wir tun oder unterlassen, ob in Brüssel oder hier, hat Wirkungen. Man kann sie prognostizieren und erforschen.

Das wollen wir tun. Schön zu wissen: In zwei Stunden sind wir klüger als jetzt. Dafür erneut Dank und noch einmal herzlich willkommen.