„Ser­bi­en zwi­schen ges­tern und mor­gen“ – Uni Bonn, 17. De­zem­ber 2014

Sehr ge­ehr­ter Herr Ge­ne­ral­kon­sul,
meine Damen und Her­ren,

wer einen Traum ver­wirk­li­chen will, muss erst ein­mal dar­aus er­wa­chen.

Wir haben eine be­deu­ten­de Per­sön­lich­keit ein­ge­la­den, näm­lich den Di­plo­ma­ten Herrn Ne­bo­j­sa Ko­sutic, den Ge­ne­ral­kon­sul Ser­bi­ens in Düs­sel­dorf, der, wenn ich rich­tig in­for­miert bin, der lang­ge­dien­tes­te Ge­ne­ral­kon­sul ist. In der Wirt­schafts­me­tro­po­le Düs­sel­dorf setzt er sich be­son­ders für die Wirt­schafts­be­zie­hun­gen ein.

Als EU-Be­auf­trag­ter für den „Sta­bi­li­täts­pakt Süd­ost­eu­ro­pa“ habe ich ge­lernt, an die Kraft des uto­pi­schen Den­kens zu glau­ben. Eine Grun­d­er­kennt­nis war: Der Frie­de braucht wirt­schaft­li­chen Fort­schritt, und ohne wirt­schaft­li­chen Fort­schritt gibt es kei­nen sta­bi­len Frie­den. Si­cher sind de­mo­kra­ti­sche Ent­wick­lung und Rechts­staat­lich­keit auch wich­tig, aber es waren doch zu oft die so­zia­len Span­nun­gen Ur­sa­che für Kon­flik­te.

Die Hoff­nun­gen an Eu­ro­pa sind in ers­ter Linie die auf wirt­schaft­li­chen Fort­schritt. Da ist es eine große Freu­de, wenn sich Träu­me Zug um Zug in Rea­li­tät ver­wan­deln. Wie sehr die Rea­li­tät An­lass zur Hoff­nung gibt, wer­den wir er­fah­ren. Wir wer­den er­fah­ren, ob der Weg Ser­bi­ens nach Eu­ro­pa mehr Ap­pell oder In­ter­pre­ta­ti­on ist.

Herr Ge­ne­ral­kon­sul Ko­sutic, Sie sind herz­lich will­kom­men, und wir sind auf Ihre „Zeit­an­sa­ge“ ge­spannt.

Las­sen Sie mich zuvor in gro­ben Stri­chen das Thema und die Re­gi­on, um die es geht, um­rei­ßen.

Der Bal­kan eig­net sich als Kri­sen­re­gi­on. Das Ge­biet ist geo­gra­fisch, kul­tu­rell und sprach­lich schroff ge­glie­dert. Schon die Römer hat­ten damit ihre Pro­ble­me. Jahr­hun­der­te­lang war es die „Knautsch­zo­ne“ zwi­schen West­eu­ro­pa und By­zanz, spä­ter des Os­ma­ni­schen Rei­ches. Die um­lie­gen­den Groß­mäch­te be­trach­te­ten es als Ein­fluss- und Auf­marsch­ge­biet. Eth­ni­sche und so­zia­le Ge­gen­sät­ze führ­ten immer wie­der zu Um­sied­lun­gen und Ver­trei­bun­gen. Die Staats­macht wurde als Fremd­herr­schaft er­lebt. Ent­spre­chend schwach waren ihre Le­gi­ti­mi­tät und die Loya­li­tät der Ein­woh­ner.

Aber auch das ist wahr: Vor dem Ers­ten Welt­krieg konn­te ein Welt­bür­ger wie Ste­fan Zweig noch sagen, dass er vom Schwar­zen Meer bis nach Ame­ri­ka rei­sen konn­te, ohne sei­nen Pass vor­zei­gen zu müs­sen. – Tat­säch­lich gab es lange Pha­sen, in denen Mus­li­me und or­tho­do­xe oder ka­tho­li­sche Chris­ten, Al­ba­ner, Ko­so­va­ren, Bos­nia­ken oder Ser­ben fried­lich Tür an Tür leb­ten. Re­li­giö­se Ge­gen­sät­ze spiel­ten eine viel ge­rin­ge­re Rolle als man uns in West­eu­ro­pa glau­ben mach­te.

Im ei­ge­nen Ra­sier­spie­gel sahen sich die Groß­mäch­te als fort­schritt­lich, prag­ma­tisch, ehr­bar, und fried­fer­tig. „Bal­ka­ni­sche Zu­stän­de“ gal­ten dann be­quemer­wei­se als rück­stän­dig, emo­tio­nal, kor­rupt und ge­walt­tä­tig. Lange war man nicht fähig, die Re­gi­on unter einer kon­struk­ti­ven eu­ro­päi­schen Per­spek­ti­ve zu ver­ste­hen.

Vor genau hun­dert Jah­ren war das Pul­ver­fass ge­füllt. Man wett­ei­fer­te darum, an der Lunte zün­deln zu dür­fen. – Das Er­geb­nis ist be­kannt, und ich brau­che die neue­re Ge­schich­te nicht zu re­fe­rie­ren.

Nach zwei Welt­krie­gen, Dik­ta­tu­ren und Bür­ger­krieg sucht die jün­ge­re Ge­ne­ra­ti­on eine mo­der­ne Zu­kunft für die Re­gi­on. Sie wol­len of­fe­ne Gren­zen in alle Rich­tun­gen. Viele set­zen dar­auf, dass die Mit­glied­schaft in einer öko­no­misch er­folg­rei­chen und ge­sell­schafts­po­li­tisch frei­heit­li­chen Staa­ten­ge­mein­schaft die lo­ka­len Ge­gen­sät­ze über­brü­cken kann. Die Wei­chen­stel­ler in Brüs­sel kön­nen viel tun, um diese Hoff­nung nicht zu ver­geu­den. Die Alt-Eu­ro­pä­er fal­len je­doch leicht in die Pose des ab­ge­klär­ten Rat­ge­bers oder Zen­su­ren­ver­tei­lers. Sie for­dern Fleiß­kärt­chen, ohne sich das selbst etwas kos­ten zu las­sen. Im Falle Ser­bi­ens er­scheint es mir z.B. als di­let­tan­ti­sche Di­plo­ma­tie, einen Schul­ter­schluss gegen Russ­land zu for­dern und das Land so in einen aus­sichts­lo­sen Kon­flikt zu trei­ben. „Brü­cken­bau“ wäre die rich­ti­ge­re Me­tho­de.

Was mir Hoff­nung macht: Die EU ist keine lang­wei­li­ge Klas­se von Mus­ter­schü­lern. Sie ist ein ziem­lich bun­ter Hau­fen aus Stre­bern und Faul­pel­zen, Über­flie­gern und Stö­rern, Spie­lern und Erb­sen­zäh­lern. Bis zum Rei­fe­zeug­nis ist es für alle noch weit, aber man rauft sich zu­sam­men. Man be­geg­net sich auf vie­len Ebe­nen. Man redet nicht nur über, son­dern auch mit­ein­an­der. Man kann vor­brin­gen, was einen be­drückt. Und wenn’s drauf an­kommt, hält man zu­sam­men.

Eu­ro­pa ist keine „Sache“, die ir­gend­wer be­sit­zen kann. Es ist ein Kon­zept und eine Me­tho­de, mit­ein­an­der um­zu­ge­hen. Wir ver­ler­nen es, auf stra­te­gi­sche Land­kar­ten zu star­ren und ler­nen statt­des­sen, in einem span­nen­den Feld von Kraft­li­ni­en und Res­sour­cen zu agie­ren.

Nie­mand ist ver­pflich­tet, sich nicht irren zu dür­fen. Das ist der ele­men­ta­re Vor­zug de­mo­kra­ti­scher Staa­ten und frei­er Zu­sam­men­schlüs­se. Das Ganze ist mehr als die Summe sei­ner Teile. – Bei au­to­kra­ti­schen Sys­te­men ist es um­ge­kehrt: Nie­mand darf sich irren, und das Ganze ist we­ni­ger als die Summe sei­ner Teile.

Un­ab­hän­gig von der for­ma­len Mit­glied­schaft in der EU: Ser­bi­en ge­hört zu Eu­ro­pa. Wer über Ser­bi­en spricht, redet über Eu­ro­pa und um­ge­kehrt. Wir sind uns viel näher als wir manch­mal glau­ben, und be­kannt­lich ver­bin­det nichts mehr als ge­mein­sa­me Pro­ble­me. Fünf Punk­te er­schei­nen mir wich­tig:

1. Jedes eu­ro­päi­sche Land sucht seine Zu­kunft und ver­sucht, die Schat­ten der Ver­gan­gen­heit zu be­zwin­gen. Das heißt nicht, sie zu ver­ges­sen. Es heißt sie kon­struk­tiv zu be­ar­bei­ten: Er­fah­run­gen si­chern, um sie nie wie­der ma­chen zu müs­sen. Ge­set­ze und In­sti­tu­tio­nen schaf­fen, die län­ger hal­ten als das Ge­dächt­nis einer Ge­ne­ra­ti­on. Und ein Ver­hal­ten ein­üben, mit dem man sich nach lei­den­schaft­li­chem Zu­sam­men­stoß am La­ger­feu­er wie­der trifft und berät: Was ma­chen wir jetzt. Wo wol­len wir hin? Ich nenne das „nach vorn“ er­in­nern.

2. Kein Land ist eine Insel (auch Eng­land nicht) und schon gar keine „Insel der Se­li­gen“. Im glo­ba­len Gan­zen braucht jeder Staat den Stoff­wech­sel mit an­de­ren: Aus­tausch von Waren und Ideen, frei­er Zu­gang zu den Han­dels­we­gen und Märk­ten. Wett­be­werb mit­ein­an­der statt ge­gen­ein­an­der. Das Spiel kön­nen alle nur ge­win­nen, wenn kei­ner ver­liert.

3. Die wirk­lich gro­ßen Auf­ga­ben un­se­res Jahr­hun­derts (und aller fol­gen­den) sind Struk­tur­fra­gen mit glo­ba­ler Di­men­si­on. Ich nenne nur Schul­den­kri­se, Ar­muts­wan­de­rung, Res­sour­cen­knapp­heit, Kli­mage­fah­ren, In­ter­na­tio­na­ler Ter­ro­ris­mus, Flucht und Ver­trei­bung, Kor­rup­ti­on. Sie re­spek­tie­ren kei­nen Schlag­baum, kei­nen Fluss und kein Ge­bir­ge. Sie sind nur im Zu­sam­men­wir­ken lös­bar. Dabei ent­schei­det nicht mehr die Größe eines Vol­kes, son­dern sein Ide­en­reich­tum. Und manch­mal hilft läs­ti­ge Be­harr­lich­keit.

4. Die Ge­schich­te Eu­ro­pas ist durch zahl­rei­che Wan­de­run­gen mit­ge­prägt. Alle hin­ter­lie­ßen ihre Spu­ren und Nach­kom­men. Eth­ni­sche Min­der­hei­ten wol­len ihre kul­tu­rel­le Iden­ti­tät be­haup­ten. Das er­for­dert von den Mehr­hei­ten To­le­ranz und Ein­füh­lungs­ver­mö­gen. So­lan­ge wir eth­ni­sche Min­der­hei­ten nicht als Viel­falt und Reich­tum be­grei­fen, ver­ur­sa­chen sie in­ne­re Armut und Kon­flik­te. Fö­de­ra­le Struk­tu­ren mit Spra­chen­schutz und re­gio­na­ler Selbst­be­stim­mung kön­nen Span­nun­gen ab­bau­en und sie in po­si­ti­ve En­er­gie um­wan­deln. Na­tio­na­le Iden­ti­tät ist in Ord­nung. Na­tio­na­lis­ti­sches Ge­tö­se mit Gleich­schritt und Über­le­gen­heits­wahn ist an­ti­quiert, pu­ber­tär und kon­tra­pro­duk­tiv. Ich per­sön­lich bin üb­ri­gens über­zeugt, dass der na­tio­na­le Sek­tor an Be­deu­tung ver­liert – zu­guns­ten des re­gio­na­len.

5. Alle Staa­ten des Kon­ti­nents lei­den unter ego­is­ti­schen Ein­zel- und Grup­pen­in­ter­es­sen, die un­ab­läs­sig ver­su­chen, sich ihrer Ver­pflich­tung für das Ge­mein­wohl zu ent­zie­hen. Eine de­mo­kra­tisch le­gi­ti­mier­te Exe­ku­ti­ve muss sich be­mü­hen, das Heft wie­der in die Hand zu neh­men. Wenn ihre Er­fol­ge in der brei­ten Be­völ­ke­rung an­kom­men, kann ver­lo­re­nes Ver­trau­en wie­der wach­sen.

Apro­pos „Ver­trau­en“. Das ver­dient – so meine ich – auch der ge­gen­wär­ti­ge Staats­prä­si­dent Ser­bi­ens. Aleksan­der Vucic könn­te Ge­schich­te schrei­ben, indem er ein Bei­spiel dafür gibt, wie weit man aus der Ver­gan­gen­heit in die Zu­kunft sprin­gen kann. Ich je­den­falls sehe, dass der mit über­zeu­gen­der Mehr­heit ge­wähl­te Mi­nis­ter­prä­si­dent Vucic im Rah­men sei­ner Mög­lich­kei­ten sei­nen Wor­ten gute Taten fol­gen lässt. Ich er­ken­ne einen en­ga­gier­ten Kampf gegen Kri­mi­na­li­tät und Kor­rup­ti­on, ich er­ken­ne das Rin­gen um mehr Rechts­staat­lich­keit, ich er­ken­ne einen ge­sun­den Prag­ma­tis­mus und ich er­ken­ne den Wunsch, die Ge­sell­schaft zu ver­söh­nen an­statt sie zu spal­ten. Ich sehe in Herrn Vucic einen Mann, der die Un­ter­stüt­zung ver­dient.

Meine Damen und Her­ren,

Psy­cho­lo­gen haben her­aus­ge­fun­den: Ein her­an­wach­sen­der Mensch wird stark und frei, wenn ihn ein mög­lichst gro­ßes und dich­tes Netz­werk un­künd­ba­rer Be­zie­hun­gen um­gibt. Ich bin über­zeugt: Das gilt auch für Völ­ker und Staa­ten. Die Eu­ro­päi­sche Ei­ni­gung bie­tet dafür Chan­cen. Die Ge­mein­schafts­idee ist der kon­ti­nen­ta­le Vor­griff auf eine fried­li­che Welt-In­nen­po­li­tik, ohne die eine Zu­kunft der Spe­zi­es „Mensch“ nicht denk­bar ist.

Mein Ap­pell an die Men­schen in Süd­ost­eu­ro­pa: Lasst uns nicht al­lein! Zeigt uns allen, wie man das macht: Aus­gleich in einem zer­ris­se­nen Land. Kon­struk­ti­ver Um­gang mit der Ver­gan­gen­heit. Nach­bar­li­cher Wett­be­werb statt Erb­feind­schaft. Fö­de­ra­le Struk­tu­ren statt Zen­tra­lis­mus. Of­fe­ne Gren­zen nach Innen und Außen.

Bringt eure Er­fah­run­gen ein, eure Wun­den und Nar­ben, vor allem aber auch eure Hoff­nun­gen!

Ich danke Ihnen.

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