„Wir sind dann mal weg!“ – Handelsblatt Global Edition, 7. November 2014

Wir sind dann mal weg

Von Bodo Hombach

Die Globalisten schüttelten den Kopf und rieben sich die Augen. Aus der Nebelwelt Schottlands stieg ein Gespenst und hauchte Raureif auf ihre Blütenträume. Wie konnte das sein? Wächst nicht alles zusammen, was nicht niet- und nagelfest ist? Strömen nicht Waren und Finanzen ungehemmt über Wüsten, Gebirge und Ozeane? Sind nicht supranationale Strukturen das Gebot des Jahrhunderts. Und nun dies: Fast die Hälfte aller Schotten wollte los von London. Genauer: Sie wollten hin zu sich selbst, nicht mit einem „No“, sondern einem „Yes“. Sie waren es leid, von Tower und Themse oder wem auch immer gegängelt zu werden.

Hier nämlich saßen keine soziopathischen Clans an den Lagerfeuern ihrer Sagenwelt, um sich von der Moderne abzuschotten. Die Ja-Sager in Edinburgh, Glasgow und anderswo fühlten sich als Europäer und wollten es bleiben, auch und gerade dann wenn sich demnächst die anti-europäischen Ressentiments im britischen Parlament durchsetzen sollten. Es ging nur vordergründig um die Scheidung einer zerrütteten Beziehung. 45 Prozent der Schotten wollten offenbar ihr Verhältnis zu Staat und Politik auf modernere Art definieren.

Denn eine neue, kluge Ausdeutung der alten Subsidiaritätsidee will drängend auf die politische Tagesordnung. Eine neue Arbeitsteilung der politischen Ebenen, rational und effektiv, die den Mitgestaltungswillen und das Bedürfnis nach Identität berücksichtigt, ist überfällig.

Globale Strukturen

übersteigen das menschliche Maß, wenn sie rücksichtslos in den Alltag der Leute eingreifen. Deren Wohngefühl speist sich nur geringfügig aus der Internationalität, mehr schon aus der Nationalität, vor allem aber aus der Regionalität ihrer Verhältnisse.

In der Region sind sie aufgewachsen und daheim. Hier bewegen sie sich zwischen Arbeitsplatz, Wohnung und Naherholung. Hier kennen sie die Sprache und Kochrezepte. Die Pflege der Landschaft, der Tradition, der historischen Bausubstanz besorgen die unmittelbaren Einwohner. Das bietet Vertrautheit und Verlässlichkeit in einer zunehmend komplexen Welt.

Gleichzeitig

erleben sie, dass ihre eigentlichen Sorgen von den fernen Machtzentralen ignoriert oder vernachlässigt werden. Nationales Parteiengezänk, Entscheidungswege, die sie aus einem Vorzimmer ins andere schicken und eine krakenhaft kalte Bürokratie, lassen kein Vertrauen aufkommen. Natürlich stehen ihre Fabriken im globalen Wettbewerb, natürlich sind sie mediale Weltbürger. Sie wollen sogar – wie Umfragen zeigen – mit großer Mehrheit eine europäischen Verteidigungspolitik und eine gemeinsame Armee. Sie wollen nicht mehr gegeneinander rüsten, aber gemeinsam wehrhaft sein. Aber sie wollen nicht den Taumelflug durch die Weite, sondern zumindest ein Standbein auf festem Untergrund. Das sind vielleicht Befindlichkeiten, aber Gefühle haben immer Recht, – schwer nachvollziehbar für Technokraten, Manager und Kosmopoliten, die auf Landkarten und Bilanzen starren und sich aus der Wirklichkeit der Leute mit „potemkinschen“ Powerpoint-Folien wegstehlen.

Ein „Europa der Regionen“

ist kein neuer Gedanke, er wurde nur im Globalisierungsrausch verdrängt und durch abstruse Konstrukte „klein-verwaltet“. Er wäre auch komplett missverstanden, wenn das Ergebnis ein Flickenteppich aus Provinznestern wäre. Die großen Probleme der Gegenwart (Terrorismus, Armutswanderung, Krieg, Klimawandel, Energie, entfesselte Finanzindustrie) scheren sich nicht um natürliche oder politische Grenzen. Sie sind nur welt-innenpolitisch zu bearbeiten, und ihre Lösung scheitert oft an nationaler oder regionaler Bockigkeit. Auch ist das Wohlstandsgefälle zwischen den Regionen zu steil und sind die Entwicklungschancen zu verschieden, um auf solidarischen Ausgleich verzichten zu dürfen. Der gelingt nicht durch freundlichen Appell, sondern nur durch das sanfte „Gewaltmonopol“ einer zentralen Autorität, die sich aus dem Willen aller legitimiert. Und gewiss benötigt ein gemeinsamer Binnenmarkt vergleichbare Standards, um Wettbewerbsverzerrungen auszuschließen. – Es gibt aber auch Probleme, die durch übergriffige Superbehörden größer werden, während man sie vor Ort akzeptabel in den Griff bekäme. Die Weisheit liegt darin, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Zwei Prinzipien sind längst erfunden und müssen nur neu angewendet werden: Föderalismus und Subsidiarität. Das erste sortiert die vernünftigen und logischen Zuständigkeiten. Das zweite ermutigt die Eigeninitiative auf der Basis regionaler Kenntnisse und Betroffenheit. Die nämlich entfesseln Ideen und entdecken Ressourcen, und daraus werden Initiativen, die überschaubar bleiben. Man kann sie sogar beenden, wenn sie ihr Ziel erreicht haben.

Schotten, Flamen, Katalanen usw. wollen – so hoffe und wünsche ich – nicht in die Vergangenheit, sondern zurück in die Zukunft. Was sie sinnvollerweise an Souveränität an die Zentralen abgegeben haben, wollen sie – ebenso sinnvoll – auf der regionalen Ebene kompensieren. Nur wer Herr im eigenen Hause ist, kann sich konstruktiv für das Gemeinwesen einsetzen.

Wenn dieser einfache Grundsatz in Brüssel, London oder Madrid (eigentlich überall!) vergessen wird, wachsen die Fliehkräfte. Niemand sollte auf Gewöhnung hoffen. Die wäre trügerisch. Scheidungsrichter wissen das: Partnerschaften mit eingebauter Zeitbombe entschärfen sich nicht mit den Jahren. Je länger sie dauern, desto brüchiger wird ihre Substanz.

Zwischen „groß“ und „erfolgreich“ steht heute nicht mehr unbedingt ein Gleichheitszeichen. Die Moderne ist zumindest ambivalent. Sie bringt nicht nur Nivellierung, Anonymität und Gleichschritt im Takt der Supermärkte, sondern auch die Auflösung der traditionellen Milieus in unterschiedlichste Lebensentwürfe. Neue Kommunikationstechniken erlauben es auch kleinen Gruppen, sich individuell zu artikulieren und mit Gleichgesinnten zu koalieren. Aus dem Wohnzimmer heraus kann man in der ganzen Welt agieren. – Und plötzlich gibt es Umfragen, welche die Mehrheitsgesellschaft das Staunen und das Fürchten lehren.

Kein Referendum fällt vom Himmel.

Jedes hat eine lange Vorgeschichte. Eine politische Kaste, die sich im fensterlosen Großcontainer behaglich eingerichtet hat und es für unter ihrer Würde erachtet, dem Wachstum der Graswurzeln vor Ort zu lauschen, darf sich nicht wundern, wenn sie am Stichtag aus allen Wolken fällt. Die Beziehungsebene ist gestört. Schmeichelnde Lockrufe werden nur noch als Einladung zur Unterwerfung verstanden. Wer Vertrauen zurückgewinnen will, muss mehr anbieten als Vertrauen.

Die Geschichte bietet manches Lehrstück. Seit dem Wiener Kongress wahrten die Großmächte Europas ein Gleichgewicht des Misstrauens. Die kleinen Völker und Regionen zwangen sie unter ihr Regime. Größere Eroberungsgelüste lebten sie in den Kolonien aus. Dieses System brach in den Weltkriegen zusammen. Zuletzt erlebte die Sowjetunion, dass aus Satelliten und Vasallen nicht automatisch Freunde und Partner werden. Zusammenschlüsse wachsen von unten nach oben. Sie sind nur dann lebendig und haben Bestand, wenn sie nach außen auf imperiale Rückwärtsträume verzichten und nach innen föderale und regionale Strukturen fördern. Dies aber nicht als provinzielles Refugium tribaler Spießer, sondern intelligent vernetzt und im lebendigen Stoffwechsel mit allen guten Geistern der schrumpfenden Erde.

Ein Pfarrer wollte sich nicht damit abfinden, dass ein Mitglied seiner Gemeinde aus der Kirche ausgetreten war. Also schrieb er ihm ein Briefchen nach, wie schön es doch sei, an den Himmel zu glauben. Er bekam die Antwort: „Ach, Herr Pfarrer, Sie ahnen nicht, wie schön es ist, nicht mehr an die Hölle zu glauben.“

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