„Globale Krisen – nationale Empörungsbewegungen und das Internet“ – BAPP, 4. November 2014
Meine Damen und Herren,
„Empört euch!“ ist der Titel der kleinen Schrift eines Mannes, legitimiert durch Widerstand gegen Diktatur und Barbarei. Der lehnt sich noch einmal auf. Er warnt vor der Enteignung des Menschen durch totale Ökonomisierung aller Lebensbereiche.
Das winzige Büchlein legte man nicht milde zu den Akten. Es findet innerhalb kurzer Zeit explosive Verbreitung in der westlichen Welt. Auch Diejenigen nahmen es als Altersweisheit, die ähnliches sonst gern als Altersschwachsinn abtun. Man deutet es als Stimme von Millionen mit ähnlichen Sorgen. Sie fühlten sich von ihm verstanden.
Ich will nicht entscheiden, in welchen Punkten Stephane Hessel Recht hat. Ob Protestbewegungen, die wir beobachten, über ihr Ziel hinausschießen oder davor zurückbleiben, ist nicht Thema dieses Treffens. Uns interessiert die Frage nach der Relevanz, den Erscheinungsformen und der inneren Struktur des Phänomens der Empörungsbewegungen.
CDU-Generalsekretär Tauber wurde letzte Woche von einer kräftigen Empörungswallung, „Shitstorm“ genannt, überrascht. Er hat Zuwanderer in die Parteizentrale eingeladen.
Ist das Mode-Erscheinung, eine „Welle“, oder gehört es für lange Zeit zum Werkzeugkasten politischer und sozialer Auseinandersetzung?
Bevor die Wissenschaftler zu Wort kommen und genauer hinschauen, ein paar volkstümliche Thesen: Damit Feuer entsteht, braucht es Brennmaterial, Sauerstoff, einen Zündfunken. Wenn eines davon fehlt, bleibt es kühl und ruhig. Weniger metaphorisch: Zum Rezept einer Protestbewegung gehören Zutaten:
Brennmaterial
- eine als widersprüchlich oder gar unerträglich empfundene Realität.
Sauerstoff
- ein verbreitetes Bewusstsein von gefühlten oder tatsächlichen Ursachen und Zusammenhängen,
- ein bestimmter Pegelstand von Sorge und Angst um Besitzstand, Sicherheit, Versorgung und Zukunft,
- ein – vielleicht naiver – Glaube an die rasche Machbarkeit und Veränderbarkeit der Verhältnisse.
Zündfunken
- Ereignisse mit Symbolwirkung, an denen sich diffuse Stimmungen konkretisieren.
Und dann noch Brandverstärker
- mediale Begleitung, Skandalisierung,
- eine rasch wachsende Gruppe Gleichgesinnter,
- schwindende Angst vor Repressionen.
Eine nachhaltige Breitenwirkung wird erreicht, wenn das angestrebte Ziel im Trend der Zeit liegt. Wenn sich die etablierte Macht dem seit Langem entzieht, erodiert deren Autorität.
Empörungsbewegungen werden oft durch Schichten getragen, die nicht unmittelbar betroffen sind. Ihre Wortführer haben die Zeit und den Bildungsstand, um grundsätzliche Fragen zu formulieren. Sie wissen, dass die im alten Regime auch nur mit Wasser kochen. Sie erobern sich die nötigen Kommunikationswege. – Sie nutzen die aktuellsten Medien. – Sie unterlaufen Herrschaftswissen, sie verständigen sich miteinander und propagieren ihre Ziele geschickt. – Sie wissen, dass es nützlich ist, diese Ziele nicht zu trennscharf zu formulieren. Besser ist eine Projektionsfläche, auf der sich ein breites Spektrum von Anmutungen und Interessen versammeln lässt.
Dem hohen, aber schwerfälligen Organisationsgrad des alten Regimes begegnet Protestbewegung mit Flexibilität. Revolutionen werden von den einen gemacht, von anderen gewonnen. Das galt in der Französischen wie in der Russischen. Wir erleben das im sogenannten „Arabischen Frühling“. „Die Revolution frisst ihre Kinder“. Ruhe ist nicht mehr erste Bürgerpflicht. Es entstehen bürgerliche Bewegungen mit Massencharakter.
Bei unterschiedlichen Einzelzielen haben sie gemeinsam: Sie vertrauen nicht mehr auf die Expertise der klassischen Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Expertengläubigkeit vergangener Tage schlägt um in Misstrauen von heute.
Das sind Symptome. Sie reichen nicht für eine schlüssige Diagnose. – Was ist neu an den aktuellen Protestbewegungen?
Es sind nicht mehr die biederen Bürgerinitiativen der 70er Jahre. Die kümmerten sich in Aktionen mit Volksfestcharakter um Stadtteilprobleme. Sie ähneln auch nur entfernt den Bewegungen um Frauenrechte, Frieden und Ökologie. Die wurden inzwischen von den Parteien jeder Couleur in ihren Stoffwechsel aufgenommen.
Mit dem Internet hat was Neues begonnen. Die digitale Revolution verändert alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens. Es erzeugt keinen neuen Menschen. Es verstärkt die Fähigkeiten des alten. Damit verändert es die Systeme, in denen er lebt.
Im Internet stellt sich alles auf den Prüfstand, was bisher Medienrecht ist. Das neue Medium kommt mit der Unschuld einer Naturgewalt daher. Sein innerstes Gesetz ist enthemmte Grenzüberschreitung. Es ist nicht eine Variante der alten Medien.
Das Internet ermöglicht massenhaft vorhandenen diffusen Befindlichkeiten, sich zu artikulieren und zu organisieren. Das kann den öffentlichen Dialog der Zivilgesellschaft über ungelöste Probleme befeuern. Es kann zur politischen Willensbildung beitragen. Es kann aber auch Pseudoprobleme hochstilisieren
Kein Medium ist so offen für Manipulation. Der Direktkontakt mit dem Adressaten lässt sämtliche Botschaften ungefiltert zu ihm vordringen. Der ist sekundenschnell und mit dem Überzeugungsdruck des heimischen Bildschirms. Für Zustimmung genügt ein Klick. Für die Beendigung einer Beziehung auch. Der Nuancenreichtum persönlicher Ansichten schrumpft zum digitalen Ja oder Nein. Ein „Ja, aber“ ist nicht vorgesehen.
Das Netz kann mobilisieren. Aber Politik braucht einen Ort, um stattzufinden. Den beherrscht meist die alte Macht. Ein Netz kann auffangen oder einfangen. Die große Freiheits-, Emanzipations- und Demokratie-Erwartung ist Enttäuschung gewichen. Alte Mächte haben sich im Netz breitgemacht.
Masse beeindruckt schwache Charaktere. Man fühlt sich als Teil eines großen Ganzen. Demagogen verstehen es virtuos, die Welt aus einem Punkte zu erklären. Sie bündeln Ängste aller Art zu apokalyptischem Schrecken.
Das gibt globalen Krisen eine enorme Wucht.
Kollektive Maximalforderungen beschleunigen Wirklichkeitsverlust. Am Ende steht eine Art „Lust am Untergang“ oder wenigstens die Lust beleidigt zu sein, die Ansätze zu einer pragmatischen Bearbeitung der Probleme sehr schwierig macht.
Das prägt Erregungs- und Empörungskampagnen. Deren Häufung erzeugt andererseits einen Gewöhnungseffekt. Der lässt die neue Waffe abstumpfen.
Masse beeindruckt schwache Politiker. Sie lassen sich im Foxtrott der Wahltermine von Umfragen beeindrucken. Sie verzichten auf langfristige Perspektiven und retten sich mit Symbolpolitik über die Runden. Wichtige Projekte der Infrastruktur scheitern schon in den Vorzimmern, wenn sie nicht breite Akzeptanz und eine positive Presse gleich mitbringen.
Ich will nicht den Apokalyptiker spielen: Wegen der Ambivalenz des neuen Mega-Mediums kann man negative und positive Wirkungen miteinander verrechnen. Die Debatte ist entbrannt.
Gerade äußerte der Netz-Guru Jeron Lenier in der Paulskirche: „Wir haben eine kreative und mutige Idee der Zukunft eingetauscht gegen eine sehr langweilige Idee, die sich ausschließlich um Geld, Macht und Kontrolle dreht.“
Wie wäre es mit einer Empörungsbewegung gegen die Auswüchse und Gefahren des Internets?! Sie bringt den Geist zwar nicht wieder in die Flasche, legt ihn aber vielleicht an die Kette vernünftiger Spielregeln.
Mir fiel dazu ein interessantes Zitat in die Hände: „Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.“ Den Satz schrieb Papst Gregor der Große vor 1300 Jahren. – Er muss dabei an unser heutiges Treffen gedacht haben.
Ich danke Ihnen.