„Machbar oder wünschbar?“ – Handelsblatt Global Edition, 3. Oktober 2014
Als man den klugen früheren amerikanischen Botschafter in Deutschland John Kornblum fragte, warum amerikanische Dienste in der ganzen Welt rumhorchen und mitlesen, war seine Antwort kurz: „Weil sie es können.“ Das klang so elementar wie „Befehl ist Befehl“. Es war weit mehr als eine Pointe. Es könnte das Axiom einer ganzen Epoche werden. Dinge geschehen aus dem einzigen Grund, dass sie plötzlich technisch möglich sind.
Im Grunde ist das nicht wirklich neu. Erfinder und Bastler in ihren Labors und Garagen waren immer besessen von der einzigen Hoffnung, „dass es funktioniert“. Ob es dann auch noch einen höheren Sinn oder Nutzen für die Allgemeinheit hatte, kam in ihren Formeln kaum vor.
Und auch das ist bekannt: Technische Erfindungen warten nicht auf Parteitagsbeschlüsse oder Koalitionsverträge, bevor sie auf den Markt kommen. Es gibt sie plötzlich mit dem naiven Charme einer Naturgewalt. Hersteller und Händler hoffen auf Käufer. Wenn diese erst in Massen anmarschieren, dämmern den Verwaltern des Allgemeinwohls die möglichen Risiken und Nebenwirkungen.
Viele technische Eruptionen sprechen nur ein kleines Klientel an. Manche aber greifen folgenschwer ein. Sie verändern das Verhalten ganzer Gesellschaften. Trotz guter Eigenschaften können die schlechten unabsehbare Schäden verursachen und vitale Systeme destabilisieren.
Machbar ist viel.
Wir leben im Zeitalter der sich realisierenden Utopien. Jules Verne hätte es heute schwer, sich für seinen nächsten Roman etwas undenkbar Neues auszudenken. Die technische Zivilisation beschert uns ein exponentielles Wachstum an neuen Gebrauchsmustern und Verfahren, ermöglicht durch die elektronische und digitale Revolution und ständig angefeuert durch globalen Markt und Wettbewerb. Früher war der Mangel die Herausforderung. Heute überfordert uns die Fülle. – In den technisch entwickelten Zonen der Erde hat noch keine Generation eine solche Demokratisierung des Fortschritts und einen solchen Sättigungsgrad ihrer primären und sekundären Bedürfnisse erlebt.
Zweifel sind erlaubt
Das Licht grenzenloser Machbarkeit hat Schatten. Häufiger stellt sich die Frage nach den Gefahren für die Lebensqualität der gegenwärtigen und zukünftiger Generationen. Der Verdacht entsteht zunächst aus begrenzten Konflikten. Er steigert sich in der Häufung zum Gefühl eines permanenten Dilemmas und kann sich zum kategorischen Zweifel auswachsen. Dabei mischen sich reale Gründe und Anlässe mit individuell-subjektiven oder kollektiven Befindlichkeiten.
Neue Kolonisierung?
Sozialpsychologen prophezeien dem Machbarkeitsrausch einen Kater, der mit Aspirin nicht zu beheben ist. Sie verweisen auf falsche Kostenrechnungen. Soll und Haben sind ungleich verteilt. Die wunderbaren Errungenschaften etwa des Internets mit weltweiter Kommunikation, Abbau von Herrschaftswissen, Zuwachs an Transparenz und Teilhabe würden längst überlagert durch endemischen Werbeterror, Cyber-Kriminalität und flächendeckendes Schnüffeln aller, die es können. Wie weiland nach der Entdeckung einer neuen Welt gebärdeten sich ein paar „neue digitale Könner“ als Ausbeuter. Wir „eingeborene“ Bürger seien nur noch Objekte einer neuartigen Kolonisierung.
Standpunkt oder Horizont?
In den 1980er Jahren entdeckte die deutsche Sozialdemokratie in heftigen Flügelkämpfen, dass sie ihr geliebtes Parteitagslied („mit uns zieht die neue Zeit“) nicht unbedingt mehr beim Wort nehmen sollte. Statt Materialismus mehr Idealismus oder vulgär ausgedrückt, etwas mehr „angrünen“. Man beschloss: „Nicht alles, was machbar ist, ist auch wünschbar.“
Die neue Parole war schick und schlichtete innerparteilichen Streit. Langfristig zeigte sie den falschen Kurs. Kritiker des Machbaren hatten Oberwasser. Sie bremsten die Dynamik der Entwicklung. Das hat bis heute nachwirkende Folgen. Bewahren wurde Selbstzweck. Erfindergeist und Entdeckermut galten als verdächtig. Schlichte Geister glaubten, der selbst gestrickte „grüne“ Wollpullover sei schon die Lösung.
Eine leichte Veränderung der Formulierung hätte den falschen Pendelschlag verhindert. Sie wäre noch heute konsensfähig: „Wir wollen das Wünschbare und arbeiten mit aller Macht daran, dass es machbar wird.“ – Materialisten und Idealisten könnten sich die Arbeit teilen und – meinetwegen widerwillig – die Hand geben. Ein Standpunkt ist gut. Ein Horizont ist besser.
Differenzierung tut not.
Spannungen zwischen wünschbar und machbar wird es immer geben. Sie beruhen auf einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das zeigt sich besonders deutlich in Umbruchsphasen. Für die einen ist ökonomisches Wachstum die Voraussetzung für Wohlstand, Nachhaltigkeit und sozialen Ausgleich. (Man kann nur verteilen, was man vorher produziert hat.) Für die anderen ist „Wachstumswahn“ und verbrauchende Ökonomie Teufelswerk und die Quelle allen Übels.
Wen wundert es: Rationale Argumente ringen mit Vorurteilen, Sachfragen gebärden sich als Grundsatzprobleme. Verantwortungsmoral streitet wider Prinzipienmoral, Angst gegen Hoffnung und sowieso Reich gegen Arm, Schwach gegen Stark, Progressiv gegen Konservativ. Überall spielen Ungleichzeitigkeiten der persönlichen und der kollektiven Entwicklung eine irritierende Rolle.
Was kann man tun?
Es gibt Strategien, die zwischen „machbar“ und „wünschbar“ vermitteln. Es gibt Wege und Methoden, die den Konflikt zwar nicht beseitigen, ihn aber konstruktiv bearbeiten.
- Demokratische Strukturen auf allen Entscheidungsebenen erzeugen einen Überfluss an Alternativen.
- Transparenz und Beteiligung wecken Vertrauen und Engagement.
- Sachliche Aufklärung erhöht die Komplexität der Argumente und reduziert die Komplexität des Konflikts.
- Die meisten Probleme sind nicht mit einem basta zu lösen. Man kann sie aber in Teilprobleme zerlegen. Das nimmt ihnen das global Bedrohliche und irrational Pauschale. „Der“ Fortschritt ist nie erreichbar. „Fortschritte“ sind aber möglich.
Entscheidend ist auch die Beziehungsebene. Sachkonflikte werden unlösbar, wenn Sympathie zwischen den Kontrahenten möglich ist. In aufgeregten Zeiten sind Konsens und Besonnenheit ein kostbares, weil seltenes Gut. Es gibt einen Sockelbetrag an Irrationalität, der alle gesellschaftlichen Auseinandersetzungen durchzieht. Und es gibt ein zerstörerisches Eigeninteresse, das sich rücksichtslos gegen das Allgemeinwohl wendet. Beide sind die eigentlichen Feinde des wünschbar Neuen.
Vorläufiges Fazit.
Man kann einer guten Sache keinen größeren Schaden antun, als sie mit schlechten Mitteln zu verteidigen. Gegen die Grundrechenarten hat noch jeder verloren.
Die Antinomie zwischen „wünschbar“ und „machbar“ ist kein Dilemma, sondern Kennzeichnen einer hohen zivilisatorischen Entwicklungsstufe. Auf dieser kann es sich eine Gesellschaft nämlich erlauben, neben den Fakten auch Haltungen zu diskutieren. Beide Begriffe sind Doppelsterne eines gemeinsamen Systems. Jede Veränderung des einen führt zur Veränderung des anderen.
Es war immer ein Zeichen menschlicher Evolution, das Machbare bis an seine Grenze auszutesten. Diese Dynamik aufhalten zu wollen, würde die Zukunft einfrieren, noch bevor sie begonnen hat. Ebenso wenig sollte man die Gefahrenabschätzung unterdrücken, sich dumm stellen und abwinken.
Im Aufzug fragte einer: „Ist das Problem unserer Zeit mangelndes Wissen oder fehlendes Interesse?“ – Die Antwort des anderen: „Weiß ich nicht. Ist mir auch egal.“ – Der Aufzug fuhr nach unten…