„Chlorhuhn und Datenkrake“ – Handelsblatt, 30. Juli 2014

Ein Einwurf von Bodo Hombach

Paul Watzlawiks bekanntes Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ bedarf einer Ergänzung. Zur menschlichen Auto-Immunabwehr gehört die Pose: „Geschieht meiner Mutter ganz recht, dass ich mir die Hände abfriere. Warum kauft sie mir keine Handschuhe.“

Selbstzerstörerische Bulimie oder Magersucht sind Zeichen einer gefährlichen Entwicklungsstörung. Betroffene wollen nicht erwachsen werden. Sie finden sich in ihrer Persönlichkeit nicht zurecht und verweigern sich dem gesunden „Stoffwechsel“ mit ihrer Umgebung. Gibt es analoge Störungen auch im kollektiven Verhalten der Gesellschaften, Völker und Staaten?

Unsere Welt ist unübersichtlich. Tempo und Komplexität überfordern Jede und Jeden. Auch wer sich in einem Detailbereich für den souveränen Experten hält, durchschaut nicht mehr wirklich die Algorithmen, Prozesse und Entscheidungsbäume, die im Hintergrund des Alltags ablaufen. Auch wer nicht dazu neigt, die Errungenschaften der Moderne zu dämonisieren, fühlt sich zuweilen fern- und fremdgesteuert, das nicht in Momenten dunklen Wähnens, sondern in solchen plötzlicher Wachheit.

Zwar genießen wir wundersame Wirkungen: den Strom aus der Steckdose, die überquellenden Regale der Supermärkte, ein leidlich funktionierendes Straßen- und Schienennetz und den grenzüberschreitenden Austausch von Ideen, Waren und Verfahren. Auf der anderen Seite der Medaille verderben jedoch verhaltensauffällige Finanzjongleure, dilettantisch gesteuerte Großprojekte und eine richtlinienscheue Politik das Vertrauen in Weisheit und Expertise der gewählten oder ernannten Steuermänner. Wenn’s dann ans „Eingemachte“ geht, an die natürlichen Lebensgrundlagen, das Klima, die Nahrungskette oder die persönlichen Freiheitsrechte, kriegt der Normalbürger seine „grünen Pickel“. Er stemmt die Hacken in den Sand und macht nicht mehr mit.

Anstatt die erkannten Probleme rational, kreativ und geduldig zu bearbeiten, fügt er ein weiteres hinzu: dumpfes Heimweh nach Einfachheit und ständige Lust auf Beleidigtsein; ein ideales Treibhaus für Vorurteile und Klischees. Die empfindet er nicht als intellektuelles Defizit. Sie tun nicht weh. Im Gegenteil: Sie entlasten den Gefühlshaushalt. Sie erleichtern die Verständigung und stiften Gemeinschaft. Sie eignen sich als Projektionsfläche heimlicher Interessen und unheimlicher Ängste. Sie erzeugen den fatalen, aber angenehmen Aberglauben, nun sei alles gesagt. Man kann sich die Mühsal des Nachdenkens, des Differenzierens und Abwägens ersparen.

Am Wegrand stehen politische Lobbbyisten, Eiferer und Demagogen und geben ihm Recht. Sie sind die virtuosen Welterklärer, die alles auf einen Nenner bringen. Zur Hochform laufen sie auf, wenn ihnen ein Ereignis oder Begriff in den Schoß fällt, an dem sich alles symbolisch festmachen lässt. Ein Jahrhundertprojekt wie die europäische Einigung reduziert sich auf „Duschkopf“ oder „Gurkenkrümmung“. Ein Jahrtausendprojekt wie die Energiewende wird mit „Trittin-Spargel“ handlich. Wer derzeit den Blick nach „Amerika“ richtet, sieht dort ein gigantisches Chlorhuhn in Symbiose mit einer gefräßigen Datenkrake, deren Milliarden Saugnäpfe jede Privatheit und alle internationalen Ordnungsformen verschlucken.

Wohlgemerkt: Es gab schon Schlimmeres als Bürger, die sich um die Standards von Wohlstand und Wohlergehen sorgen. Mit guten Gründen darf man entfesselte Geheimdienste in die Schranken weisen, wenn sie den westlichen Demokratien vorgaukeln, gegen islamistischen Terror helfe nur noch Selbstmord aus Todesangst. Mit allem Recht darf man auch vor der Unterzeichnung eines transatlantischen Freihandelsabkommens die Vor- und Nachteile abwägen. Problematisch wird es jedoch, wenn sich niemand mehr um die sachlichen Einzelheiten des Vertragsentwurfs schert, sondern aus Vorurteilen eine linksschwingende politische Keule geschnitzt wird. Das weil man das große, bunte, widersprüchliche Amerika fröhlich vereinfachend zu einem Maggiwürfel schrumpfen will aus skrupellosem Ökonomismus, globaler Gigantomanie, vermischt mit „Guantanamo“, „Abu Graib“, Todesstrafe, Bibelfanatik und NSA. Das „Chlorhuhn“ wird dann zum Unterscheidungsmerkmal zwischen Gut und Böse, zwischen den hohen Freiheitsstandards und Qualitätskriterien Europas und der „naiven“ Massengesellschaft Amerikas, wo das Geld regiert und jedermann glaubt, die Welt sei in sechs Tagen erschaffen worden.

Antiamerikanismus aus selbstquälerischer Neigung.

Kein Mensch und erst recht kein Volk hat nur eine Identität. Über ein großes Land wie Amerika kann man sagen, was man will, es stimmt immer irgendwo und irgendwie. Schon der Einzelne ist ein Amalgam zahlreicher und oft widersprüchlicher Eigenschaften. In der Darmflora eines fanatischen Veganers kann ein Bandwurm leben. Mein Nachbar ist Familienvater, Elektrotechniker, Grünenwähler, Briefmarkensammler und Sänger im Kirchenchor. Es wäre respektlos und fahrlässig, ihn auf nur ein „typisches“ Kennzeichen festzulegen. Im Ausland würde er sich streng verbitten, mit der gegenwärtigen Regierung seines Landes identifiziert zu werden. Er will auch nicht für die Machenschaften eines Geheimdienstes geradestehen. Wenn er – sagen wir – als mittelständischer Betrieb mit einem amerikanischen Einkäufer zu beider Nutzen Handel treibt, bedeutet das nicht die vasallenhafte Unterwerfung unter den „ugly American“, der sich mit dem Slogan „right or wrong – my country“ über die internationalen Regeln des guten Benehmens hinwegsetzt.

Wer alles in einen Topf wirft, hat am Ende einen öden Speiseplan. Er entlastet seinen momentanen Gefühlshaushalt, schadet sich aber massiv selbst. Er verzichtet auf die konkreten Vorteile eines gemeinsamen Marktes und damit auf Geld im eigenen Beutel. Er verzichtet auf den Kollateralnutzen stabiler Handelsbeziehungen, in denen sich die besseren Standards durchsetzen können. Nicht zuletzt verweigert er den vielen Amerikanern die Hand, die unter Fehlgriffen und Fehlentwicklungen der eigenen Regierung leiden und ihrerseits dagegen protestieren.

Keine Frage: Es braucht Behutsamkeit und Gefahrenabschätzung. Die moderne Technik entfesselt ungeheure Kräfte und Wirkungen. Die totale Industrialisierung aller Bereiche kann neben der massenhaften Versorgung mit Gütern auch ungute Folgekosten zeitigen. Falsch gestellte Weichen können in Sackgassen führen.

Keine Frage: Öffentliches Handeln bedarf öffentlicher Kontrolle. Gesundes Zögern gehört zu den Eigenschaften der demokratischen Gesellschaft. Wer das Gute behalten will, sollte alles prüfen und den Diskurs der Gesellschaft über ihren Kurs zulassen. Das ist gut und nützlich. Es klärt die Einzelheiten. Es bringt bisher unbedachte Alternativen ins Spiel. Unser Wirtschaftsminister macht das durchaus richtig. Das ermöglicht, auch die Trägen und Ängstlichen mitzunehmen.

Keine Frage aber auch: Die Wirklichkeit passt nicht in das Sandkastenförmchen unserer Vorurteile. In nervösen Zeiten sind wir eher bereit, Konfrontation und Zerfall zu riskieren als uns für Zusammenarbeit und Interessenausgleich einzusetzen. Aufbau ist langwierig und mühsam. Zerstörung geht schnell und einfach. Da genügen ein paar Sprechchöre und begehrlich aufgegriffene Missverständnisse. Die sorgsame Entwicklung einer internationalen Struktur braucht kreative Geduld und Klugheit und muss viele Hindernisse überwinden, auch die der eigenen Selbstzweifel.

Vor 4000 Jahren sinnierten schon die alten Inder in der „Bhagavadgita“: „Denn achten muss man auf die Tat, / achten auf unerlaubtes Tun. / Muss achten auf das Nichttun auch. / Der Tat Wesen ist abgrundtief.“

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