„Die politische Integration Südosteuropas: Scheidung oder Scheideweg?“ mit Philipp Mißfelder – Uni Bonn, 4. Juni 2014

Meine Damen und Herren,
verehrter Herr Dr. Kerim,
verehrter Herr Mißfelder,

wer springen will, braucht festen Boden unter den Füßen. Das gilt für den Einzelnen und die Gesellschaft. Es gilt auch für ganze Völker, die aus einer überlebten Periode ihrer Geschichte in eine neue streben.

Das Projekt „Europa“ ist ein solcher Sprung. Es hat das weiteste Ziel, das sich die Völker dieses zerrissenen und zänkischen Kontinents je gesetzt haben. Nach einer tausendjährigen Geschichte von Wanderungen, Aufständen, Erbfeindschaften und Kriegen wagte die Generation meiner Eltern den Entwurf zu einem neuen Aggregatszustand. Sie wussten nicht, wo sie damit landen würden. Auch sie standen auf schwankendem Boden, nach zwei Weltkriegen nämlich auf einem rauchenden Trümmerhaufen und den Gräbern von rund 70 Millionen Menschen. Aber sie hatten eine Gewissheit, die sie zum Sprung ermutigt: So wie es in der Vergangenheit war, sollte es nie wieder sein. Nichts bindet enger als ein gemeinsamer Feind oder gemeinsame Sorge: Für sie war es der Krieg als solcher. Sie hatten begriffen, dass es für jeden Konflikt eine bessere Lösung gab als sich gegenseitig zu massakrieren. Gemeinsamer Nutzen auf dem Markt war besser als gegenseitiger Schaden auf dem Schlachtfeld.

Die Idee war gut. Sie machte Schule. Immer mehr Völker übernahmen das Gebrauchsmuster und beantragten die Mitgliedschaft in dieser neuartigen Gemeinschaft. Heute drängen sich 28 Staaten im gemeinsamen Haus. Da schlagen manchmal die Türen oder es zieht durch offene Fenster, aber wer sich einigermaßen an die Hausordnung hält, kann relativ behaglich leben. Bei Bedarf legt sogar die Hausgemeinschaft zusammen, um aus einer Not zu helfen.

Eigentlich könnte man sich zur Ruhe setzen, aber – wie wir wissen – wäre das eine gefährliche Illusion. Das gemeinsame Haus hat Wachstumsschmerzen. Die Statik muss überprüft werden. In den Wänden zeigen sich Risse. Und auch das Umfeld wurde schwieriger. Viele Probleme sind hausgemacht, aber viele kommen auch von außen heran. Nach eine langen Schönwetterperiode drängt sich die Erkenntnis auf, dass ein solches Projekt nie gesicherter Zustand ist, sondern für immer ein dynamischer Prozess. Er ist und bleibt ein Experiment, und Experimente können scheitern.

Heute bietet die Europäische Union ein durchaus verwirrendes Bild. Krisen spielen sich in den Vordergrund, und es gibt berechtigte Anfragen. Die alte Zusage: Stabilität, Wohlstand und – wenn’s denn sein muss – Vielfalt gilt nicht mehr als selbstverständlich.

Die Schulden-, Finanz- und Eurokrise wurden vielleicht für den Augenblick gedeckelt, aber jeder weiß: Das geschah durch einen immensen Vorgriff auf die Chancen der künftigen Generation. Und es war kein rätselhafter Schicksalsschlag, sondern das Ergebnis schwerer politischer Fehler. Viel Vertrauen wurde verspielt, um nicht zu sagen verzockt. Aber nicht die Urheber wurden zur Kasse gebeten. Breite Schichten der Bevölkerung wurden durch massive Spardiktate gezwungen, den Absturz in die Pleite aus ihrer Tasche zu verhindern und soziale Standards abzubauen.

Wen wundert’s, dass Demagogen ihre Chance ergriffen und Lösungen anboten, die nur eines sein mussten: simpel und parolengeeignet. Wenn bei den Gründungsmitgliedern der Gemeinschaft bis zu 25 % der Wähler eine Zerschlagung der EU für bedenkenswert halten, dann ist Feuer unterm Dach.

Nun will ich hier nicht die Wahlanalysen der letzten Wochen wiederholen. Es geht uns um die Staaten Südosteuropas und ihr Verhältnis zum gemeinsamen Haus. Vor allem geht es um diejenigen, die demnächst einen Mietantrag stellen wollen.

Auch sie haben es nicht leicht. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems und den darauf folgenden Turbulenzen sind sie in einer schweren Identitätskrise. Der Boden schwankt, von dem sie springen sollen:

  • Während sich die Jungen in die Moderne sehnen, hängen die Alten an ihren verlorenen und verratenen Träumen.
  • Die Wirtschaft läuft nicht rund. Korruption verlangsamt oder verhindert den Aufstieg.
  • Ethnische Vielfalt wird nicht von allen als Reichtum empfunden, sondern als Spannung und Bedrohung.
  • Innere Zerrissenheit sucht sich immer ein Ventil nach außen. Sie sucht sich – angefeuert durch schlechte Politik – einen Sündenbock.
  • Nun hat die Flutkatastrophe das Potenzial der Hoffnungslosigkeit gesteigert.

Aus anderen Gründen als in den Weststaaten, aber mit ähnlichen Folgen, fühlen sich die Völker in einer tiefen Identitätskrise. Sie wissen noch nicht, wer sie sind und welche Rolle sie auf dem kontinentalen Parkett spielen können. Die Alten wissen es scheinbar nicht mehr. Dabei könnten sie alle zumindest eines ahnen: Im globalen Zusammenhang wäre jeder Einzelne verloren. Aber ein Europa, das nach Süden wächst, z. B. irgendwann mal die Ukraine aufnähme, aber England verlöre, ist für viele auch nicht die Vision, mit der sie angetreten sind.

Ich schließe diesmal nicht mit einer These, sondern einer Frage:

Wie lange werden diese Völker das Haus „Europa“ als Leuchtturm begreifen und im Blick behalten, während die alten Bewohner es in signifikanter Menge nur noch als Bruchbude sehen und nach der Abrissbirne rufen? Gibt es hüben wie drüben Kräfte und Persönlichkeiten, die es mit Leidenschaft und Geduld stützen werden und dafür ihre Lebensspanne investieren?

Nun habe ich – denke ich – genug Melancholie verbreitet. Unsere beiden Gäste werden uns wieder aufmuntern. Ich bin gespannt auf ihren Beitrag und unsere Diskussion.