„Zuhören – eine Wiederentdeckung“ – Handelsblatt, 25. April 2014

Lärmschutz ist „in“. Neue Flughäfen und Einflugschneisen sind kaum noch gegen das Ruhebedürfnis der Anlieger durchzusetzen. Ein Menschenrecht auf Stille wird energisch eingefordert, auch unter lautem Protest.

Physikalischen Lärm kann man mit Dämmstoffen reduzieren. Beim politisierenden Lärm ist das schwieriger. Manche Redner oder Blogger glauben nur noch sich selbst. Sie messen die Qualität ihrer Argumente an Lautstärke oder Rabulistik. Mit Hilfe neuer Technik kann heute jeder senden, wann, was  und so viel er will. Das wird fleißig genutzt. Nur noch wenige können oder wollen zuhören.

Meinungsgegner aller Couleur versuchen, sich zu übertönen. Sie halten es für Selbstbehauptung, Leidenschaft und Willensstärke. In Talkshows haben sie die Gladiatorenrolle. Das Publikum feuert an. Der Moderator treibt sie gegeneinander. Er hat solche ausgesucht, von denen er sich Kampfeslust und Wortgetöse verspricht. Parteisekretäre, Journalisten, Verbandsfunktionäre haben sich vorher ihre Argumente zurechtgelegt,  sind entschlossen, keinen Fingerbreit Terrain aufzugeben. Sie wurden von ihren Mannen auf Krawall gebürstet.

Viele Moderatoren moderieren nicht mehr. Sie geben allen gleichzeitig das Wort. Was sich optisch als Diskurs gebärdet, mutiert zur multiplen One-way-Kommunikation. Worte, Sätze, Gesten wabern wie eine Art Plasma zwischen den Studiowänden.

In kurzen Erschöpfungsphasen kommt es vor, dass einer zu einem längeren Gedanken ansetzt. Man nutzt die Zeit, sich die nächsten Statements und Antworten zurechtzulegen. Sie müssen nicht zu der Frage passen, die jemand stellen wird.

Symbolfigur des Übertönens ist „Gernot Hassknecht“ in der Heute-Show des ZDF, wenn er sich mitten im Salbadern – wie ein Fünfjähriger an der Lidl-Kasse – hinschmeißt und herausschreit, was seine intellektuelle Peristaltik bedrängt. Das Publikum fühlt sich ertappt und klatscht vorbeugend Beifall.

Eine neue Chance für Anschreien bietet das Internet. In Blogs und Meinungsseiten ist jeder „auf Sendung“. Er schießt aus vollem Rohr, gut gedeckt durch einen Fantasienamen und ohne Rücksicht auf lästige Umgangsformen. Durch die Schießscharte des heimischen Bildschirms kann man die ganze Welt mit verbalem Schaum übergießen und sich selbst jeder Gegenwehr entziehen. Argumente sind selten, pointierte Meinungen ebenfalls. Viele Schreiber begnügen sich mit ihrer momentanen Befindlichkeit, schmettern diese aber mit der Wucht einer hohenpriesterlichen Verkündigung jedem vor die Füße, der sich nicht schnell genug wegklicken kann.

Eines ist allen Schreihälsen gemeinsam. Sie haben das Zuhören verlernt. Sie haben es sich wegtrainiert wie ein lästiges Überbleibsel aus den Kindertagen politischer Kultur.

Machen wir einen nostalgischen Versuch, diese uralte Tugend wiederzuentdecken. Dabei genügt uns nicht der Albumspruch, dass wir nur einen Mund, aber zwei Ohren haben. Immerhin: Die letzteren erlauben uns das räumliche Hören. Es vermittelt uns ein realistischeres Bild von der Vielfalt der Stimmen und Tonlagen. Man entziffert Vorder- und Hintergrund, unterscheidet Wichtiges und Nebensachen. Man steckt nicht in einer Sackgasse oder klagt an einer Mauer. Der Zuhörer ist nicht nur an seinem eigenen Echo interessiert.

Ein weiterführender Dialog braucht Sprechen und Zuhören. Das hat einen enormen Kollateral-Vorteil. Wenn nur einer spricht, während der andere lauscht, halbiert sich der Lärm der Veranstaltung. Das Publikum bekommt eine Chance, eigene Gedanken zu entwickeln und sich klar zu werden, was man gern selbst und schon immer gesagt hätte.

Das bloße Sprechen schließt Türen. Neugieriges Zuhören öffnet sie wieder. Es zwingt den Meinungsgegner zu freiwilliger Selbstkontrolle. Es erlaubt ihm, einen Gedanken beim Sprechen „allmählich zu verfertigen“ (Kleist) und so auf platte Parolen und Worthülsen zu verzichten. Coram publico lässt man sich ungern von der Höflichkeit seines Gegners übertreffen.

Auch Unternehmen, die ihre Kunden nicht nur be- und umwerben, sondern ihnen tatsächlich zuhören, würden enorm profitieren.

Zuhören ist mehr als listige Strategie. Es ist praktizierter Respekt vor der Sichtweise des Anderen. Es erlaubt diesem, so zu sein und zu denken, wie es ihm seine Lebenserfahrung gebietet. So spürt auch er: Es ist eben nur seine Sicht der Dinge. Sein Zuhörer hat möglicherweise ganz andere Erfahrungen. Beide erleben sich als Person. Beide machen eine atemberaubende Entdeckung: Das Gegenteil der Wahrheit ist auch nicht ganz falsch.

Prof. Dr. Gretschmann, von 2001 bis 2011 renommierter Generaldirektor im EU-Ministerrat, sprach kürzlich von „preferenda instead of referenda“. Ich übersetze das so: Politiker, die ihrem Volk zuhören, besser: mit ihm im Dialog sind, leben Demokratie. Sie müssen eine Volksabstimmung nicht fürchten. Sie brauchen niemandem nach dem Munde zu reden (oder nach dem Ohre zu schweigen). Es genügt, ehrlich und neugierig erfahren zu wollen, was die Leute umtreibt und was zwischen den Zeilen ihrer Alltagssprache steht. – Welches politische System wäre heutzutage referendumsfest? Europa in der jetzigen Form ist es jedenfalls nicht.

Protestler mit unterschiedlichsten Motiven und Hintergründen haben eine Klage gemeinsam: „Auf uns hört ja keiner!“

Im Widerstreit der Meinungen empfahl der Philosoph Karl Popper einen modernen Erkenntnisweg. Es geht nicht darum, das vielleicht Richtige zu behaupten, sondern das mit Sicherheit Falsche zu kennzeichnen. Das erlaubt,  das vielleicht Irrige zu dulden – bis zum Erweis seiner Schädlichkeit. Nur der ergebnisoffene Diskurs erzeugt ein konvergentes Bild der Lage und ermöglicht gemeinsames Handeln. Die Bibel empfahl, Unkraut bis zur Ernte mitwachsen zu lassen. Glaubenssätze sind nicht richtig, weil es so „geschrieben steht“. Ein denkfauler Potentat, der sich für die Legitimierung seiner Sottisen und Verbrechen auf sein Gottesgnadentum beruft, ist das, was er immer schon war: ein gefährlicher Narr.

Die Kulturtechnik des Zuhörens ist Grundlage und Ferment der Demokratie. Die ist nicht Diktatur der 51 über die 49. Mehrheitsentscheidungen sind nur dann zu rechtfertigen, wenn sie das kleinere Übel sind, und auch der Unterlegene wenigstens mitwirken konnte. Es geht um den friedlichen Interessenausgleich im Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe. Die kleinste Gruppe kann die weiseste sein und die größte die dümmste. Die Gesellschaft ist kein „Volkskörper“ unseligen Angedenkens, sondern buntes Ensemble multiplexer Individuen, Gruppen und Bedürfnisse. Niemand ist nur Gänger einer Partei oder Apostel eines Programms. Er ist zugleich auch noch Familienvater, Taubenzüchter, Wähler, Katholik und Elektriker. Wenn man ihn in die eine Schublade einsortiert, springt er aus der anderen heraus. Er selbst wäre heillos überfordert, sich eindeutig definieren zu sollen.

Wer eine letztgültige Wahrheit zu verkünden hat, braucht nicht zuzuhören. Er braucht nur Zuhörer. Die Geschichte der unumstößlichen Wahrheiten ist aber die Geschichte der Irrtümer.

Thomas von Aquin schrieb einmal: „Ich darf meinem Meinungsgegner erst dann widersprechen, wenn ich das beste seiner Argumente überzeugender vortragen kann als er selbst.“ – Whow! – Gar nicht so dunkel, das Mittelalter!