„Mehr Demokratie für Europa? Die EU zwischen Bürokratisierung und Bürgernähe“ mit Christian Lindner – BAPP, 18. März 2014

Sehr verehrte Damen und Herren,

herzlichen Dank dem Gastgeber. Die Deutsche Post AG unterstützt uns. Ihr Vorstand, Herr Gerdes, der uns so freundlich begrüßt hat, ist im Kuratorium der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik.

Die heutige Veranstaltung mit Herrn Christian Lindner – auf den wir sehr gespannt sind – führen wir mit der Bonner Industrie- und Handelskammer durch. Herrn Dr. Hubertus Hille danke ich auch für seinen engagierten Beitrag. Der leitende Phoenix-Redakteur, Herr Michael Krons, wird die Diskussion moderieren. Er wird nicht durch künstliche Kontroversen den Unterhaltungswert suchen, sondern wichtige Erkenntnisse für uns herausarbeiten.

Christian Lindner, Prof. Dr. Decker, Prof. Dr. Gretschmann haben dazu sehr viel zu bieten. Prof. Dr. Gretschmann – ein alter Weggefährte – war  Chef der Wirtschaftsabteilung im Kanzleramt. Das hat hier in Bonn begonnen. Später war er Generaldirektor im Ministerrat der EU. Ein Insider.

Wir stehen vor der Wahl zum Europäischen Parlament. Die erlebt der Kontinent an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Der Euro sollte Motor der Integration sein. Wir hoffen, dass er nicht zum Kolbenfresser wird.

Die Grenzen sind offen für Waren. Neue Grenzen entstanden zwischen Regierungen und ihren Völkern. Zwischen Integrationsgewinnern und –verlierern. Die von Interessen gut geölte EU-Bürokratie praktiziert das Gegenteil von Subsidiarität. Sie verzwergt eine großartige Idee. Ihre Chef leisten sich regelmäßig Kommunikationsdebakel. Die Rüge für deutsche Exportstärke und angeblichen Stabilitätswahn hat sich in den Köpfen festgefressen. Der Schwung der Gründerjahre weicht übellauniger Langeweile.

Wer mit einem „weiter so“ in den Europawahlkampf zieht, ist für die Akzeptanz Europas gefährlicher als sogenannte Europakritiker. „Alles weiter wie gehabt“ wäre eine Parole zum endgültigen Abstieg. Wähler respektieren Vergangenheit und wählen für die Zukunft.

Die für Europa so wichtigen Briten stimmen demnächst über „in“ oder „out“ ab. Auf dem Maidan versammelte sich Europasehnsucht. Die Erwartungen dort sind gewaltig.

Nicht nur hier gilt: Nur realistische Erwartungen sind vernünftig. Das Europa des „Freude schöner Götterfunken“ ist Erinnerung. Man kann am Widerspruch zwischen Erwartung und Realität Schaden nehmen.

Dazu die Geschichte eines französischen Ehepaares:

Sie wünschten sich dringend ein Kind. Sie taten, was nötig war – oft mehr als das.  Es fehlte nicht am Willen zum Erfolg. Aber es dauerte. Endlich war es so weit – ein Knabe. Sie wollten ihr unendliches Glück über dessen Geburt Ausdruck verleihen. Deshalb nannten sie das Kind „Formidable“, also großartig, wunderbar. Aber das Kind blieb ein nicht besonders hübscher, schmächtiger Ängstlicher. Der litt sein Leben lang unter dem Widerspruch zwischen Namen und Realität. Er wurde deshalb gehänselt, immer wieder und überall. Er bat seine Frau, den verhassten Namen nicht auch noch auf dem Grabstein zu bringen. Sie versprach es. Eines traurigen Tages ließ sie in den Stein meißeln: „Er war mir immer treu.“ Menschen, die das lasen, waren beeindruckt und riefen: „Oh, cest formidable“.

Für Europa braucht keinen Grabstein, aber auf dem Grundstein sollte mit neuer Bescheidenheit stehen: „Zusammen geht es oft besser“. Wir wollen unsere Besonderheit respektieren und füreinander nützlich sein. Nach dem Krieg wuchs aus der Montanunion und gemeinsam geplanter Infrastruktur Schritt für Schritt verbindendes Interesse. Das verdrängte Trennendes.

Nach den Balkankriegen habe ich erlebt, dass über einen solchen Prozess Völker, die vor wenigen Monaten Krieg miteinander führten, zusammenfinden können. Ich erinnere mich auch daran, dass nicht die Aufgaben auf dem Balkan die schwierigsten waren. Es waren Besonderheiten der Brüsseler Bürokratie, die mich zu der öffentlich geäußerten Erkenntnis brachten: „Mein Balkan ist Brüssel“.

Diese Grabenkriege konnte man bestehen, aber sie waren kräftezehrend. Der Hongkong-gestählte Kommissar Chris Patten sagte mir einmal: „Bodo, die Arbeit mit der Bürokratie hier ist der Versuch, mit bloßen Händen Wasser an der Wand hochzuschieben“.

Wir wissen aus einer Europastudie der BAPP, die von Forsa begleitet wurde: Das Volk hat durchaus Visionen für Europa. Das Prinzip Europa findet breite Zustimmung. Dessen Realität enttäuschte Ablehnung. Aber beinahe 80 % können sich bei ihrer Antwort auf eine Frage ohne Vorgaben vorstellen, dass Europa sich gemeinsam verteidigt. Ein Votum, das auch in Umfragen anderer Länder ähnlich ist. Die europäischen Völker wollen keine Gräben oder Wälle mehr zwischen sich ziehen. Politische Initiativen, die diesen Wunsch ernsthaft aufgreifen, sehe ich nicht.

In Europa ist Feuer unter dem Dach oder zumindest Dampf im Kessel. Der „GmbH Europa“ droht das Schicksal zu groß gewordener Gebilde: Sie werden selbstgefällig und träge. Wer Europa will, muss es tiefgreifend reformieren.

Die EU hat bedeutende Errungenschaften in ihrem Musterkoffer. Für die sind wir dankbar. Um die beneiden uns die Völker der übrigen Welt:

–       Demokratie,
–       Bürgerfreiheit,
–       Spielregeln, die den friedlichen Ausgleich der Interessen fördern.

In 70 Jahren ist es gelungen, ein in Jahrhunderten gewachsenes Hasspotential auf das Niveau von Familienstreitigkeiten abzusenken.
Kennzeichen Europas ist nicht fossiles Verbieten der Debatte. Das machen  autokratische Systeme. Europa ist eine zivile, manchmal anstrengende Dynamik bei der Suche nach Lösungen. Nicht Gleichschritt, sondern Diskurs ist der Zusammenhalt dieser Gemeinschaft.  Auch grandioses Scheitern stellt das System nicht in Frage.
Brauchen wir mehr Demokratie in Europa? Gute Gründe sprechen dafür:

  • Die unterschiedlichen Konzepte und Lebensentwürfe haben regionale Eigenschaften. Sie könnten im friedlichen Wettbewerb nebeneinander existieren.
  • Mehrheitsentscheidungen sind immer ein – notwendiges – Übel. Wer vielleicht darunter zu leiden hat, soll wenigstens daran mitgewirkt haben.
  • Bürgerbewegungen haben die Kompetenz der Betroffenen. Sie  sind ein Korrektiv gegenüber abgehobenen Spezialisten in Politik, Verwaltung und Wirtschaft.
  • Bürgerbewegungen können grenzüberschreitenden Austausch und gegenseitiges Verstehen fördern.
  • Die gegenwärtigen Bewegungen sind unterschiedlich motiviert. Eines eint sie: Der Eindruck, dass die Regierenden ihnen nicht zuhören.

Gibt es gangbare Wege zu mehr Bürgerbeteiligung? Welchen Einfluss hat interessengesteuerte Lobbyarbeit auf echte Meinungsbildung? Wie kann man verhindern, dass medial hochgekochte Befindlichkeiten Sachverstand vernebeln? Mehr Fragen als Antworten.

Chronisches Reizklima zwischen Flashmob und Liquid-Democracy, zwischen Shit- und Candystorm kann es nicht sein. Ein Spiel braucht Regeln, wenn sich auch die Verlierer mit dem Ausgang abfinden sollen.

„Ausgewogene Unzufriedenheit“ gelingt nicht durch gängelnde Vorschriften. Nicht durch Glattbügeln regionaler Eigenheiten. Schon gar nicht durch die Demütigung ganzer Völker, die man zwingt, sich die Beute ihrer Oligarchen vom Munde abzusparen. Es gelingt gewiss nicht ohne unzählige Diskussionen auf den Marktplätzen, in den Kabinetten, am Gartenzaun und in Instituten wie BAPP, dessen Gäste wir sind.

Ich grüße erneut Christian Lindner, den Vorsitzenden der Freien Demokraten. Er ist zurzeit vielleicht freier als ihm lieb ist. Aber eine „Bundes-Pause“, wie sie der Wähler verordnet hat, erlaubt es, über alles ganz neu und drauflos nachzudenken. Nichts anderes machen wir in unserer Akademie.

„Mehr Demokratie wagen“ war ein Wort von Willy Brandt. Es war eigentlich aber auch schon immer Kerngedanke des Liberalismus.

Herr Lindner, bitte sprechen Sie zu uns. Wir sind neugierig. In zwei Stunden werden wir klüger sein, als wir es jetzt sind. Dafür danke ich allen Mitwirkenden schon jetzt.