Rede: Globale Krise – BAPP, 25. Februar 2014
Sehr geehrte Damen und Herren!„Empört euch!“ ist der Titel der kleinen Schrift von Stéphane Hessel, die sich explosiv verbreitete. Und es war nicht das Pamphlet eines Revoluzzers, der sich wütend auf den Boden wirft, um schreiend und strampelnd einen Frust abzuarbeiten. Es war eher ein Rufer in der Wüste, der mit seiner in Krieg, Verfolgung und Aufbau gemachten Erfahrung einer gerechten Ordnung in Europa Klage und Anklage erhob gegen Entwicklungen, die sein Lebenswerk und seine Träume wie Ramschware behandelten und sie für schnellen Reibach verscherbelten. Was die Empörung des alten Mannes so wirksam machte, waren nicht Lautstärke und Schaum vor dem Mund, sondern die freundliche Ruhe, mit der er sie vortrug. Es war Zorn, aber „heiliger“ Zorn.
Dagegen stehen Empörungswellen, wie sie uns die Medienwelt im Wochentakt serviert: Eruptionen aufgrund diffuser Befindlichkeit, „autonome“ Ressentiments, die das Bestehende erst einmal zerschlagen wollen, bevor sie sich – wenn überhaupt – die Mühe einer konstruktiven Alternative machen.
Dass eruptive Empörung die politische und gar die geopolitische Lage verändern kann, zeigt uns die arabische Welt. Venezuela, Thailand, Ukraine, aber auch die südeuropäischen Staaten sind weitere aktuelle Beispiele. Dass sie auch gute Gründe haben, dafür sorgen Fehlstrukturen. Manche Empörungsbewegungen organisieren sich und werden zur vertrauten Stimme im Dialog um Naturschutz, Klimawandel oder Entgleisungen der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Kein Zweifel: Das Thema steht auf der Tagesordnung. Das Phänomen hat tiefere Gründe als eine pure Modeerscheinung. Es ist ein lohnendes Objekt für politische und sozialpsychologische Analyse. Ein Institut wie BAPP ist dafür berufen und wie geschaffen. Das Thema wird uns intensiv beschäftigen und am Ende Erkenntnisse, Kriterien und Kategorien finden, die auch Entscheidungsträgern gegen Taumelflug und Hilflosigkeit helfen.
Ich kann an dieser Stelle nur ein paar Stichworte anbieten, die das Thema an- oder umreißen:
- Empörung ist ein starker Affekt, und Gefühle haben immer Recht. Das ändert nichts an ihrer Ambivalenz. Einerseits sind sie subjektiv, schwer zugänglich und unberechenbar. Andererseits kann man sie erzeugen, anheizen, zur Weißglut bringen und die so gewonnene Energie auf die Mühlen bestimmter Interessen lenken.
- Die politische Wirksamkeit von Empörung hängt von vielen Faktoren ab. Ich nenne nur einige und auf gut Glück:
- Eine Individualgesellschaft verhält sich anders als eine fremdgesteuerte Massengesellschaft.
- Wo sich der Druck unbearbeiteter Probleme aufgrund fehlender Ventile lange staut, kann er sich am Ende nur noch explosiv entladen, – mit den entsprechenden Zerstörungen und Opfern.
- Eine offene Gesellschaft, die sich um Transparenz bemüht und Mitwirkung erlaubt, die also auch über flexible und dynamische Institutionen verfügt, hat flachere Spannungskurven.
- Die Völker haben – je nach Klima – unterschiedliche Temperamente. Es gibt Kulturen, wo man sich rasch und heftig empört, sich aber auch schnell wieder beruhigt. Man lässt Fünfe gerade sein und findet sich mit den Widersprüchen des Lebens weitgehend ab.
- Es gibt andere Kulturen mit kühleren Köpfen, aber mit langer Halbwertszeit der kollektiven Gefühle und der humorlosen Neigung, die Welt aus einem Punkte zu erklären.
- Empörung ist kein Wert an sich. Sie bekommt ihn erst durch ihren Anlass und ihr Ziel.
Die Revolutionsforschung hat herausgefunden: Revolutionäre Bewegungen entstehen nicht in den Schichten, die unter den Verhältnissen am heftigsten leiden, sondern immer in denen, die aus dem Gröbsten heraus sind. (Die Französische Revolution kam nicht aus den Pariser Elendsvierteln, sondern aus den Salons des wirtschaftlich erfolgreichen Bürgertums.) Das hat mindestens drei Gründe:
- Es braucht ein Bewusstsein, das die bestehenden Verhältnisse als unerträglichen Widerspruch erkennt.
- Es braucht eine Fähigkeit und Bereitschaft, die Erkenntnisse zu artikulieren, sich zu solidarisieren und zu organisieren.
- Und beides ist erst dann möglich, wenn die Betroffenen überhaupt die Zeit dazu haben, nachzudenken, Alternativen zu artikulieren und mit Gleichgesinnten zu diskutieren.
Eine enorm wichtige Rolle spielen die Medien. Sie können aufklären, aber auch vernebeln, aufregen, aber auch beruhigen. Die Boulevard- und Skandalpresse versteht es meisterlich, ein dumpfes Wir-Gefühl zu erzeugen, so dass sich auch der harmloseste Leser als Träger und Vollstrecker des Weltgeistes fühlen darf. Generell springen Medien auf alles, was Dramatik verheißt.
Heute ist das Internet eine Kategorie für sich. Es ist für Empörungswellen wie geschaffen. Blogs und Soziale Netzwerke eignen sich wenig für abgewogene Erörterung, aber sehr für massives Aufschäumen. Die dortigen – überwiegend anonymen – Kommentare machen Empörung zur Dauerpose. Der Traum, die Neuen Medien seien die schöne neue Welt basisdemokratischer Selbststeuerung der Gesellschaft, könnte zum Albtraum werden und Errungenschaften gefährden, die besser sind als der Durchschnitt einer launischen Bevölkerung.
Und noch etwas: In den Auseinandersetzungen um die richtige Zukunft haben es die Progressiven schwer, für ihre Empörung eine Massenbasis zu finden. Da haben es die Bewahrer des Gestrigen, auch des Ewig-Gestrigen, sehr viel leichter. Inmitten unvermeidlicher Wachstumsschmerzen haben Viele die Zukunft lieber hinter sich als vor sich. – Andererseits: Ohne Rebellen bleibt die Welt wie sie ist.
Eine kleine Anekdote zum Schluss:
Wir hatten daheim eine scheinbar gut-katholische Nachbarin. Wenn eines ihrer Kinder vom Spielplatz kam und sich heulend und wütend über einen Kameraden beschwerte, dann hörte sie kummervoll zu, nahm den kleinen Ankläger mitsamt seiner Empörung in die Arme und sagte: „So schlimm ist der Peter? Dann wollen wir jetzt zusammen ein Vaterunser für ihn beten, damit er sich bessert.“ Der Kläger war irritiert, denn so war seine Empörung nicht gemeint. Es half nichts. Er betete mit.
Später konnte man beobachten: Ein Kind kam heulend und wütend angerannt. Kurz vor der Mutter fiel ihm aber ein, dass es gleich wieder ein Vaterunser setzen würde. Die Empörung fiel in sich zusammen. Es drehte ab und lief zum Spielplatz zurück.