„Verteidigung des Generalisten“ – Handelsblatt, 31. Januar 2014
Ein Klempner besucht die Niagara-fälle. Nach dem Staunen sagt er: „Das kann ich in Ordnung bringen.“
Der Experte weiß immer mehr – über immer weniger. Am Ende weiß er alles – über nichts. So spotten wir, aber wir brauchen ihn. Ohne hochspezialisierte Kenntnisse und Fertigkeiten würden Brücken einstürzen, Mondlandungen scheitern und Blinddarmentzündungen noch immer tödlich enden.
Gleichzeitig verringert sich das Wissen um ganzheitliche Zusammenhänge. Trotz feinster Analyse und Steuerung entstehen ringsum Verluste und Probleme.
Das Publikum ist irritiert. Auf blinde Expertengläubigkeit folgt blinde Expertenschelte. Menschen mit Haltung und Überblick werden als „Generalisten“ abgetan. Grenzgänger gelten als zwielichtig.
Es gibt die Logik des Differenzierens, und es gibt die Logik des Integrierens. Beide haben ihr Recht. Wir brauchen den Spezialisten, der die Komplexität erhöht, die Bereiche zerlegt und sie unter dem Mikroskop genau betrachtet. Aber auch den „philosophischen Kopf“ (Schiller), der die künstlich getrennten Bereiche wieder zusammenführt, die Komplexität reduziert und das Machbare mit dem Wünschbaren versöhnt.
Das gilt nicht nur in Wissenschaft und Technik, sondern auch in der Politik. In den Parlamenten fallen Entscheidungen über Großprojekte der Infrastruktur und ethische Grenzbereiche. Expertenwissen benötigt Menschenkenntnis und Lebenserfahrung. Wenn’s hochkommt auch noch Charakter und Rückgrat.
Gegenwärtig diskutieren wir über Grenzgänger, die aus der Politik in die Wirtschaft wechseln. Wir vermuten Interessenkollision und sind vorauseilend misstrauisch. Andererseits wünschen wir der Wirtschaft politisches Gespür und Argumentationsfähigkeit. Wir haben nicht zu viele „Quereinsteiger“, sondern zu wenige. Sie exportieren nicht heimliche Interessen, sondern nützliche Kenntnisse und Maßstäbe.
Die moderne Zivilisation agiert nicht mehr in starrer, undurchlässiger Pyramide, sondern in einem Netzwerk von Kompetenzen. Seiteneinsteiger und Wanderer sind nicht Störfall. Sie zeigen Risikobereitschaft und Mut.
Ein Lesetipp: „Die Joker. Warum unsere Gesellschaft Generalisten braucht.“ von Moritz Küpper und Prof. Dr. Tilman Meyer (Bouvier– Verlag).