„Die Rolle des Skandals in der Politik“ mit Rüdiger Oppers (Evonik Industries) – Uni Bonn, 22. Januar 2014
Meine Damen und Herren,
lieber Rüdiger Oppers,
unser Thema hat gewiss seine Untiefen und Schwierigkeiten. Eine hat es nicht: Es fehlt ihm nicht an Beispielen. Auch die seriösen Zeitungen – die unseriösen sowieso – bringen den täglichen Skandal frisch auf den Frühstückstisch. Meine alte Vermutung scheint sich zu bestätigen: In allen Etagen der Gesellschaft geht es vielen nicht mehr um die Frage: „Darf ich das tun oder ist es ungehörig, unmoralisch, böse?“, sondern nur noch: „Was ist, wenn es rauskommt?“
Gerade wird aus den „gelben Engeln“ des ADAC der „gefallene Engel“, wo ein Kommunikationschef mit 250.000 € Jahresgehalt – vielleicht für ein paar heimliche Zusatzgeschenke – seit Jahren das Vertrauen von 19 Millionen Mitgliedern verspielt. Der Kölner Stadt-Anzeiger machte gestern daraus eine Karikatur: Eine Frau ist mit ihrem Auto vor den Baum gefahren. Gerade kommt ein Helfer des ADAC, aber die Frau ruft ihm energisch entgegen: „Fahren Sie weiter! Ich habe Sie nicht gerufen. Ich komme schon alleine klar!“
Der Skandal war schon immer die Würze einer offenen Gesellschaft. Manchmal ist er das Ferment, das die Verhältnisse klärt und weiterbringt. Ich hoffe nicht, dass er demnächst unser tägliches Brot sein wird.
Woher kommt diese Dichte und Dauerpräsenz?
– Unser Gast ist Rüdiger Oppers, vor kurzem noch Chefredakteur der Traditionszeitung NRZ, früher Unternehmenssprecher des Westdeutschen Rundfunks und Studioleiter des größten WDR Studios Köln – heute Repräsentant eines bedeutenden Unternehmens mit Sitz in Berlin, Brüssel und Essen – ein Mann also, den diese Frage gewiss interessiert und den sie seit langem beschäftigt. Ich bin gespannt, was er uns gleich dazu aus eigener Beobachtung sagen wird.
Vorab will ich nur ein paar Aspekte in den Ring werfen, die mir wichtig erscheinen und die unser Thema von einer besonderen Seite beleuchten.
Skandale sind die Kapriolen einer Gesellschaft, die ansonsten eigentlich in geordneten Bahnen läuft. Es sind die Erreger, oft die Aufreger, die einen Explosionsblitz erzeugen, auch eine Rauch- oder Staubwolke und vielleicht einen Krater hinterlassen.
Sie sind jedoch nicht eindeutig in ihrem Erscheinungsbild. Oft gibt es einen dramatischen Unterschied zwischen dem tatsächlichen Sachverhalt und seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Man sieht es immer dann besonders gut, wenn das Ereignis gerichtsnotorisch wird. Dann nämlich schrumpft der justitiable Anteil in der Regel fast gegen Null und scheint in keinem Verhältnis mehr zu stehen zum Schlagzeilengewitter und Talkshow-Getöse, mit dem es wochenlang die Gesellschaft beschäftigte. (Denken Sie an die Affäre „Wulff“!)
Auf Anhieb sehe ich dafür zwei Gründe:
Offensichtlich gibt es neben den Gesetzbüchern und Regelwerken des öffentlichen Lebens noch immer einen enormen Bereich des sittlichen Empfindens, der Traditionen und der politischen Kultur. Er reagiert auf Verletzungen und gerade deshalb so heftig, weil er die unbeweisbaren Gewissheiten irritiert. – Was man weiß, muss niemand so wütend verteidigen wie das, was man glaubt.
Der zweite Grund: Die total mediatisierte Öffentlichkeit wird viel häufiger, greller und dann auch in großer Breite als früher mit skandalösen Vorgängen konfrontiert.
Auch dafür fallen mir mindestens zwei Gründe ein:
Die Presse steht angesichts technisch explodierender Möglichkeiten bei gleichbleibend großem Markt in einem scharfen Verteilungskampf. Jeder will der Erste sein, nicht unbedingt der Beste. Also ist man oft nur der Erstbeste. Das führt zu tendenzieller Übertreibung und Dramatisierung. Es genügt nicht mehr nur, den tatsächlichen Skandal zu entdecken. Man übt sich auch im Skandalisieren harmloser Auffälligkeiten.
Seitdem in den USA entdeckt wurde, wie wirksam man einen Präsidentschaftskandidaten durch gezieltes Skandalisieren demontieren kann, gehört das Thema zur Dämonologie auch unserer Wahlkämpfe.
Der zweite Grund: Mit dem Internet ist eine neue Stufe der technisch-kommunikativen Zivilisation entstanden. Ob sie aufwärts oder abwärts führt, lasse ich dahingestellt.
Die multipolare Kommunikation des neuen Mediums, seine zeitgleiche Präsenz zum Geschehen und die ubiquitäre Verfügbarkeit weltweit und ohne barmherziges Vergessen erzeugen eine Ausfaltung der Möglichkeiten (zumindest in die Breite), wie sie vorher unvorstellbar war. Besonders auch die Sozialen Netzwerke erlauben es jedem Teilnehmer, sich unmittelbar, anonym und persönlich folgenlos zu äußern. Diffuse Befindlichkeiten schäumen in kürzester Zeit zum Massenphänomen auf und erzeugen so neue Realitäten, die weder demokratisch legitimiert sind, noch durch professionelle Analyse und Gewichtung in ihrem Wahrheitsgehalt überprüft wurden.
Verunsicherte Politiker, vielleicht auch selbst nicht charakterfest genug, um sich aus solchen Shit- oder Candystorms nichts zu machen, meinen, hier das Ohr am Wähler zu haben. So gelangen frühreife oder nichtige Themen auf die politische Agenda.
Man könnte sagen: Der Skandal hat hier sein ideales Medium gefunden. Die ihm wesensnahe Unschärfe entspricht dem Schwarmcharakter der Internetkommunikation. Die neue Öffentlichkeit geht einher mit einer neuen Anonymität. Aus dem scheinbar privaten Hinterhalt kann jeder jederzeit Botschaften streuen und Kommentare abfeuern, deren Wirkung sich der öffentlichen Kontrolle oder Steuerung entziehen. Während Prominente, Führungskräfte, Abgeordnete, Amtsträger, immer noch mit Gesicht, Stimme und Namen erkennbar sind, duckt sich die Masse der Zwitscherer und Blogger hinter ihr Pseudonym. Der Angeklagte steht am Pranger. Die Ankläger bleiben hinter ihrer Maske.
Sozialpsychologen wissen zudem, dass sich Menschen in ihrer „Burg“, in der heimischen Wohnung, im Auto, auf dem Klo deutlich anders benehmen als vor Zeugen. In den vier Wänden sinken die Hemmschwellen. Man bohrt unbeschwert in der Nase, beschimpft Nachbarn, Kollegen oder den Chef mit Vokabeln aus der untersten Kiste oder lässt einfach mal „die Sau raus“. Das mag den inneren Gefühlshaushalt ausgleichen und ist relativ unschädlich. Im Internet kann es schlimme Wirkungen anrichten. – Und dass der Liebe Gott alles sieht, glaubt niemand mehr. Dann schon eher die NSA.
Friedrich Schiller kannte das Phänomen und widmete ihm einen zweizeiligen Hexameter:
„Jeder, sieht man ihn einzeln, ist halbwegs klug und verständig.
Sind sie in corpore, gleich wird ein Dummkopf daraus.“
Übrigens: Es ist bemerkenswert, dass die Sendung „Hart aber fair“ seit jüngstem ausdrücklich nur noch Publikumsstimmen zu Wort kommen lässt, die sich mit ihrem echten Namen zu ihrer Meinung bekennen.
Genug als Einstieg für unser Treffen. Lieber Herr Oppers, wir suchen hier geduldig und manchmal ungeduldig die Nähe der Praxis. Was können Sie uns aus Ihrer Erfahrung berichten? Sie haben das Wort.