„Vaterland Europa? – Europäische Identität in der Zeit der Euro-Verschuldungskrise“ – Uni Bonn, 15. Januar 2014

Meine Damen und Herren,

wir waren schon mal weiter. Am Vorabend des 1. Weltkriegs konnte der Kultur-Europäer Stefan Zweig ohne Pass durch Europa und den Balkan reisen. Selbst in die USA kam er ohne Visum. Großmannssucht, nationalistische Scheuklappen der Staatslenker steuerten später kaskadenartig in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

Soziologen und Historiker sehen die Völker Europas als eine „agonistische“ Gesellschaft. Konflikte sind treibende Kraft. Oft ging es darum, den Unterlegenen zu demütigen oder gar zu vernichten.

Wir glauben tapfer, dass es eine Wertegemeinschaft und kulturelle Identität Europas gibt: Weder Christentum noch Aufklärung, weder Kathedralen, Kategorischer Imperativ noch Neunte Sinfonie konnten Katastrophen verhindern.

Der Kontinent wurde immer wieder von Selbstsucht, Misstrauen, Hass und Krieg zerrissen. Kants seherischer Entwurf eines „ewigen Friedens“ für Europa blieb Reclam-Heft. Stammesfehden folgten dynastische Feldzüge. Religionskriege wechselten mit Kabinetts- und Revolutionskriegen. Dichter und Denker verstanden sich über Grenzen hinweg relativ gut. Städte und Landschaften sanken gleichwohl immer wieder in Asche. Der nationalistische Feldzug Hitlers brachte fast das totale Ende. – Es gab Ruhephasen, aber die waren trügerisch.

Mitte des vorigen Jahrhunderts hatten ein paar alte Männer die Faxen dicke. Die Gründerväter der Europäischen Einigung erkannten, dass nicht nur hehre Ideen, sondern auch schlichter Nutzen Gemeinschaft bilden kann.

Wo Nächstenliebe schwach entwickelt ist, muss man gezügelten Egoismus auf den Treibriemen legen. Das ist nicht heroisch und hat wenig Glanz.

Aber die Geschichte zeigt, dass nicht Pilgerwege, sondern Handelsstraßen und Märkte Regionen und Völker verbinden. Die alten Männer konzipierten das neue Europa als eine Art: „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Die Trümmer verschwanden. Der Wohlstand wuchs. Handel und Wandel knüpften ein Netz von wachsender Dichte.

Als Kollateralnutzen ergaben sich gegenseitiges Kennenlernen, Jugendaustausch und eine Selbstverständlichkeit des Umgangs. Die Soldatenfriedhöfe waren nicht mehr Anlass für Revanche-Gedanken. Sie wurden gruseliges Dokument aus dem Irrenhaus der Eisenzeit.

Nun haben wir Schulden-, Finanz- und Wirtschaftskrise, Probleme mit dem Euro. Das ökonomische Schwungrad für die Einigung stottert. Der Motor läuft nicht mehr rund. Der Nutzen des gemeinsamen Marktes kommt nicht überall an.

Im Globalisierungsrausch will jeder der Erste sein. Rettungsschirme auf Pump haben wenigstens noch Placebo-Effekt. Unterschiedliche Volkswirtschaften lassen die gemeinsame Währung wie eine gemeinsame Illusion wirken.

Politik wird kurzatmig und wirkt ferngesteuert. Aus Weichenstellern werden Fallensteller. Populistische Scharfmacher haben in einigen Ländern Konjunktur. Die EU scheint denen ein Auslaufmodell. Einige nennen das Panikmache oder „German Angst“.

Gibt es unter der Asche unserer Konflikte das Verbindende, das man nur ausgraben muss? Die Ereignisse unserer Geschichte sind „europäische Geschichten“. Es sind Erzählungen, die zusammengefügt eine grandiose Anthologie ergeben. Die Anthologie ist die Suche nach einer humanen, offenen und friedlichen Gesellschaft.

Aktuell erleben wir höchst widersprüchliche Signale: Europamüde Alt-Europäer staunen über vitale Europasehnsucht in der Ukraine. Erregte Volksmassen stellen ihren Kompass klar in Richtung Westen. Sie wollen ihrer Regierung auf die Sprünge helfen. Sie wollen ihr Beine machen.

In Schuberts Lied vom Wanderer heißt es: „Dort, wo du nicht bist, da ist das Glück!“

Was ist los in Europa? Ist es noch Vater- und Mutterland? Gibt es Re-Nationalisierung und Zerfall? Wieviel ist uns das größte Friedensprojekt unserer Geschichte wert?

Gerade erinnert uns das 100-Jahr-Gedenken an den 1. Weltkrieg, an eine Urkatastrophe der Neuzeit. Zernörgeln wir nun alle Errungenschaften mit dem ewigen Hinweis auf die von Brüssel genormte Banane? Wollen wir Freizügigkeit, aber nicht für Bulgaren und Rumänen? Ticken vielleicht die Völker anders als ihre Regierungen?

80 Prozent der Leute wünschen nach einer Untersuchung, die forsa für BAPP gemacht hat (bei Antworten ohne Vorgabe) eine gemeinsame Verteidigungspolitik. Schwer vorstellbar für die meisten gewählten Vertreter!

Aber Kommunikations-Desaster, die sich europäische Verantwortungsträger leisten, zerrütten die Stimmung.

Ergiebige Themen. Jeder kann diesen Katalog verlängern. Es lohnt sich, den Blick zu schärfen und pragmatisch nachzufassen. „Europa“: Welches sind die Konstanten? Welches sind die Variablen? – Ich bin überzeugt: Europa ist kein utopisches Projekt. Wer das Gegenteil glaubt, findet Probleme. Die anderen müssen Wege finden.

Ich wünsche mir ein referendumfestes Europa.

Ich freue mich auf unsere Expedition ins Innere und bin gespannt auf ihre Ergebnisse und auch auf ihre Erlebnisse.

– Herzlich willkommen!

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