„Mitte und Maß“ – Handelsblatt, 27. Dezember 2013
Schon der Titel ist ein Lackmustest. Klingt er für Sie langweilig, ausgewogen, irgendwie unentschieden oder gar feige? Dann sind Sie Liebling bestimmter Medienmacher und Wunschkonsument ihrer Produkte. Dann haben Sie’s gern laut und grell, auf Kontrast gebürstet, dramatisch, krisengeschüttelt und skandalierend.
Schütten Sie beim Beobachten des Zeitgeschehens wenig Adrenalin aus, zählt gar das rechte Maß und eine erfahrungsbasierte Toleranz zu Ihren Kardinaltugenden, dann könnten Sie zur großen Mehrheit der ganz normalen Leute gehören. „So what!“ werden Sie sagen. Zwar sind Mehrheiten nicht unbedingt ein Nachweis für Weitsicht und Weisheit. Sie sind aber auch nicht zwangsläufig ein Hinweis auf Scheuklappen und Dummheit.
Im ständigen Trommelfeuer unversöhnten Pro und Kontras haben sich die zwei Seelen in jeder Brust weiter entfremdet. Mehrheiten sind für Europa aber gegen seine Erscheinungsformen. Die Mehrheit will die Energiewende, aber keine zusätzlichen Belastungen. In argumentationsarmer Zeit mangelt es an herausgearbeiteten Zusammenhängen und Hintergründen. Vertrauen in die Weisheit der Entscheidungsträger hat sich ohnehin verflüchtigt.
Nichts gegen Fernsehdiskussionen und Talkshows, aber manchen beschleicht Unbehagen. Werden dort wirklich wichtige Themen verhandelt – genauer: Werden sie wirklich verhandelt? Eine Produktionsfirma hat die Meinungsgladiatoren ausgesucht. Bevorzugt werden Personen mit betonierten Positionen und Beißerqualität. Der Moderator „moderiert“ nicht, er mäßigt nicht, sucht keine Gemeinsamkeiten, sortiert, klärt nicht die Argumente, sondern hetzt sie aufeinander. Es geht weniger um Diskurs und Erkenntnis, sondern um Schall und Rauch. Unterhaltsam soll es sein. Das Publikum soll den Daumen heben oder senken. Sollte sich in dieses Feuerwerk ein Gast verirren, der plötzlich und ohne Narkose abgewogen auftritt, Gegenargumente wägt und vielleicht sogar seine in Frage stellt, blicken sich die anderen an und fragen prustend: „Was ist denn in den gefahren? Wäre er Parteifunktionär, würde es ihm im eigenen Laden Stimmen kosten. – Der freilaufende Zuschauer wundert sich. So wie er dort „vertreten“ wird, kennt er sich gar nicht. Offenbar verkehrt er in ganz anderen Kreisen.
Das Internet bietet neue Möglichkeiten, tatsächliche Öffentlichkeit durch eine gefühlte zu ersetzen. Hier ist jeder und jede sofort „auf Sendung“, weltweit und unwiderruflich. Der anonyme Blogger und „Zwitscherer“ muss nichts wissen oder recherchieren. Es genügt eine vage Befindlichkeit, eine Person oder ein Ereignis als Kristallisationspunkt und die verbale Inkontinenz des notorischen Zwischenrufers. Er kann aus der Deckung der Anonymität die angreifen, die sich mit Gesicht und Stimme zeigen. Er erspart seinen Lieblingsansichten die Auseinandersetzung und damit Berührung mit der Wirklichkeit. Verantwortungsträger in Politik, Wirtschaft, Kultur sind ihm wie Kampfhähne, die sich zu seinem Vergnügen streiten sollen. Wer nicht pariert, wird mit Zorn und Häme übergossen. Journalisten, die nicht deftig zulangen, werden als Komplizen verdächtigt. Im allgemeinen Klimawandel der politischen Kultur ist der „shitstorm“ das markante Wetterphänomen.
Alles noch kein wirkliches Problem. Es ist ja auch Dampfablassen und Reset für Denkweisen, die sich in einer Endlosschleife verfangen haben. Der Baron von Münchhausen kannte einen alten Zecher, der kurz vor dem Vollrausch seine Schädelplatte abheben und das wabernde Gewölk herauslassen konnte.
Nun aber kommen ernstzunehmendere Meinungsbildner mit relevanterer Medienwirkung zum Zug. Diejenigen mit schwächelndem Charakter und peripherer Professionalität halten das verbale Getümmel für Volkesstimme. Sie schließen von den künstlich entfachten Stürmen auf die Realien der politischen Landschaft. Im Run auf Quoten und Marktanteile brauchen sie die Aufreger, die Kontroversen, die Skandale. Auch sie schärfen und spitzen zu. Da einer den anderen liest, sind sie von sich selbst begeistert, wenn sie ihre hoch- oder niederschreibenden Texte anderswo wiederfinden. Spätestens jetzt beginnen sie zu glauben, was sie selbst erfunden haben.
Gibt es eine Welt außerhalb des Internets? Sollte man es als „Erkenntnisinstrument“ nicht wieder in die Spielkiste tun und stattdessen auf alte Hausmittel setzen: Geduldige Recherche, repräsentative Befragung, abgewogene Analyse und vorsichtige Schätzung?
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Hölderlins Bonmot tröstet, denn wahr ist auch: Otto Normalverbraucher hat ein feines Gespür für Übertreibungen. Speziell in Deutschland ist „Biedermann“ vielleicht träge, dafür aber auch mit Widerwillen gegen „Brandstifter“ ausgestattet. Er ist nämlich ein gebranntes Kind. Extravaganzen, Polemik, heftige Schwankungen, Häme und Spott statt aufklärerischer Satire überzeugen ihn nicht. Vielleicht schaut er eine Weile zu, kopfschüttelnd oder amüsiert, wenn es aber zum Schwur kommt, flüchtet er heim ins Mittelmaß. Wie bei einem gut eingestellten Lithium-Status zeigen seine Leidenschaften und Gefühle nur eine geringe Schwankungsbeite.
Es gab in der politischen Landschaft der bundesdeutschen Geschichte durchaus heftige Wortführer und ausgreifende Täternaturen. Franz Josef Strauß z. B. war stets für eine Schlagzeile gut, aber die Wählermehrheit verwehrte ihm konsequent den Griff ins Zentrum der Macht. Extreme One-Issue-Parteien können es – bei günstiger Unzufriedenheit – ins Landesparlament bringen. Genau so rasch sind sie aber auch wieder draußen, wenn ihre Parolen mit der Lebenswirklichkeit der Leute kollidieren. Die Studentenbewegung hatte den naiven Traum, ihr Feuerchen würde und müsste doch die Arbeiterschaft entflammen und so eine Revolution erzeugen. Die aber schüttelte nur den Kopf und ließ sie links liegen. Mit umgekehrten Vorzeichen verschätzten sich auf der anderen Seite die, die bei jeder Albernheit der „Kommune 1“ – und auch berechtigten Forderung – die Kreml-Glocken läuten hörten.
„Keine Experimente“ – Mit Adenauers Wahlkampfparole sind nach wie vor Mehrheiten zu gewinnen. Experimente haben in der Vergangenheit vielen schon Wohlstand und Leben gekostet. Polarisierer füllen die Zeitungsspalten, aber in der Wahlkabine möchte man nicht mit ihnen alleine sein. Die Mehrheit richtet sich unter der breiten und hohen Kurve der Gaus’sche Normalverteilung ein. Das ist nicht mutig und auch nicht glanzvoll, es hat etwas von Zipfelmütze und Filzpantoffel, aber trotz vorhandenem intellektuellem Hochmut: Niemand schämt sich.
Warum auch! – In der Demokratie sind Mehrheiten die Basis für Regierungshandeln. Das stolze und gelebte Schweizer: „Das Volk hat immer recht“ hat sich in unserer Politrealität noch nicht breitgemacht. Parlamentarische Hoheit-s-(!)-rechte wie das Budgetrecht traut man hier anders als in der Schweiz dem Volke nicht zu. An demokratischer Reife liegt es nicht. Dem Staatsschiff tut es gut, wenn sich Mannschaft und Passagiere mittschiffs aufhalten. Würden sie bei jeder Welle aufgeregt zur einen oder anderen Bordkante rennen, gerieten die natürlichen Schwankungen außer Kontrolle.
Niemand sollte die lebendige Mehrheit einer offenen und demokratischen Gesellschaft verwechseln mit der toten Mehrheit einer organisierten Masse. Die künstliche Dauer-Erregung in der Diktatur ist künstliches Koma, in dem sich ein Einzelner mit Terror und Angst zur Mehrheit erklärt.
Die lebendige Mehrheit ist auch kein Argument gegen utopische Entwürfe. Diese scheitern, sobald man versucht, mit ihnen gesellschaftliche und ökonomische Programme durchzusetzen, die nicht in freier Zustimmung mehrheitsfähig wären. Andererseits hilft es, Chancen und Risiken des Traumes von Zukunft nachvollziehbar abzuwägen.
Aus dem Zettelkasten:
Das Bonner „Haus der Geschichte“ zeigt einen Kurzfilm von großer Symbolkraft: Im freien Raum schwebt eine Plattform, auf der mehrere Personen verschiedenen Alters und Geschlechts versuchen, im Gleichgewicht zu bleiben. Sobald sich einer von ihnen bewegt, neigt sich die Plattform entsprechend und zwingt alle anderen zu einer ausgleichenden Verlagerung ihrer Position. Wenn nicht alle in den Abgrund stürzen wollen, muss jeder die Zwangspartner im Blick behalten und sensibel reagieren.
Während der stalinistischen Umerziehung in der Sowjetunion schwärmten die KP-Prediger aus, riefen in jedem Dorf die Bauern zusammen und erklärten ihnen weitschweifig, was es mit Marx und seinen Theorien auf sich hatte. „Noch Fragen?“ schloss einer seine mitreißenden Ausführungen. Da hob ein Bauer den Finger: „Alles schön und gut, Genosse Kommissar, aber gibt es denn nun Leben auf dem Mars oder nicht?“