„Der Volkeswille“ (zur Bundestagswahl 2013) – Handelsblatt, 20. Dezember 2013
Der Vorsitzende der bei der Wahl glücklosen Sozialdemokraten hat hoch gepokert. Er hat gewonnen. Den Seinen Chancen zur Gestaltung eröffnet: Den Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Wohlfahrtsstaat und soliden Finanzen.
Veröffentlichte Meinungen in Ton, Bild, Schrift oder Netz lagen wieder mal daneben. Danach waren kaum zehn Prozent der Genossen für das schwarz-rote Bündnis. Die sind auch Mediennutzer. Jeder einzelne musste glauben, zum Fähnlein der sieben Aufrechten zu gehören, wenn er – anders als der meist gefilmte randständige Bochumer Ortsverein – ein tapferes „Ja“ votierte.
Mancher tat so, als ginge es bei dem Votum um eine Art gefühlter Kriegsanleihe wie 1918. Das Ergebnis der Mitgliederbefragung spricht eine andere Sprache. Mit 76 Prozent „Ja“ bei den abgegebenen Stimmen überflügelt es auch notorische Optimisten.
Es stellt viele der sich multimedial verbreitenden Auguren ins Aus. Die geben ihre eigenen Prophezeiungen gern als Volkes Stimme aus. Selbst BILD hatte zeitweilig Schwierigkeiten, die richtige Witterung aufzunehmen.
Es gibt sie, die schweigende Mehrheit! Sie wird vom Netz weder ein- noch aufgefangen. Umfragen können das eher. Die Entdeckung der schweigenden Mehrheit ist alt und hat sich vielfach bestätigt. Gibt es auch eine schweigende Wahrheit? Sie dreht Journalisten eine lange Nase, wenn sie sich zu sehr an Click-Kontakten im Web bedienen. Darf man von der hysterisierenden Wirkung des Internets sprechen?
Zwar gibt es das Massenphänomenen einer subkutanen Bereitschaft, sich unterzuordnen. Man möchte Teil einer möglichst großen Gruppe sein. Das wurde und wird gern zur Stimmungsmache benutzt. Wir lernen aber, dass Volkes Stimme – nicht nur in der geübten Schweiz – mehr von Maß und Mitte geleitet wird als die von polarisierenden Meinungen überfütterte Talkshow-Gesellschaft vermuten lässt.
Im Internet kann jeder seine ganz persönliche Einschätzung so weit verbreiten, dass Journalisten der unkritischen Art die für den allgemeinen Konsens halten. Wir vergessen leicht: Das Web ist Gegenstand der Analyse, aber nicht ihr Werkzeug.