„Gratismut“ – Handelsblatt, 15. November 2013

Das Internet ist gepriesen als Weltplattform für Jedermann – als lang ersehnte Teilhabe des „mündigen Bürgers“. Das Ohr, ganz offen, für Volkes Stimme und Stimmung. Bürgerbeteiligung als Schwarmintelligenz.
Heute folgt jedem Ereignis, Bericht, oder Nennung einer Person ein Kometenschweif von Kommentaren platonisch veröffentlicht von Administratoren der Portale. Eine Zensur findet nicht statt.
Aber ach! – Vox populi hat häufig Schaum vor dem Mund. Das spitzt zu, überzeugt wenig. Neben guten Gedanken und ehrlichen Befindlichkeiten ergießt sich in anonymen Kommentaren auch eine Flut aus Häme, Hass und Borniertheit – in dieser Menge aus Leserbriefen nicht bekannt. Aus dem Hinterhalt von Fantasienamen lassen etliche Schreiber die Sau raus, hetzen und bringen zur Strecke, zerbeißen sich auch gegenseitig bis zur Erschöpfung.
Soziale Tugenden wie Höflichkeit, Respekt, Nachdenklichkeit, oder Fertigkeiten wie Sorgfalt, Recherche, Differenzierung, Abwägung gelten zu vielen Schreibern als Ungeist, gar Sünde. Wer sich im Alltag zivilisiert benimmt, setzt im heimischen Gefechtsstand seine Maske auf und lässt alle Masken fallen. Hier kann ihm keiner. Hier können ihn alle. Hier ist er mit seinen Frustrationen und Ressentiments auf Sendung, per Klick.
„So sind se!“ könnte man seufzen und die Achseln zucken, aber Ignoranz und Hass sind nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist die Folgenlosigkeit für den Täter bei oft schweren Folgen für Opfer. Dieses muss unter seinem Namen aushalten, was ihm die Meute unter Pseudonym antut. Wehe ihm, wenn er sie ignoriert.
In jeder seriösen Redaktion fliegt anonyme Post in den Papierkorb. Daran erinnert sich nun erfreulicherweise YouTube und will einen Filter einbauen. Nur der Kommentar wird veröffentlicht, der mit dem Klarnamen des Autors unterschrieben ist. Eine Chance, das Bürgerforum ehrlich zu machen. Jeder soll sich weiterhin äußern, wie er will. Denn Rechte, die man nicht nutzt, verschwinden. Hierbei braucht und soll man sich nicht verstecken. Das ist demokratischer Fortschritt. Maskierter Gratismut ist keiner.

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