„Unter dem Roten Teppich. Die Rolle des Skandals in der Politik“ mit David Schraven – Uni Bonn, 8. November 2013
Meine Damen und Herren,
Wir interessieren uns für die politische Rolle des Skandals in der Gesellschaft. Täglich werden wir damit konfrontiert. Ehrwürdige Institutionen wie die katholische Kirche, höchste Staatsämter, Bauprojekte, Beschaffungsaktionen, ganz zu reden von globalen Ereignissen wie Finanzskandalen, Vorteilsnahme, Umweltskandalen, Enthüllungen.
Da stehen moralische Präzeptoren plötzlich in kurzer Soutane da. Da stürzen Minister ins Bodenlose. Mancher klebt zu lange an seinem Stuhl. Eine Schlagzeile erschlägt die nächste. Man verliert fast schon die Übersicht. – Wer auf seine Linie achten muss, sollte aufpassen, wie viel Fettgedrucktes er lesen will.
Aber Skandale sind nicht nur das Happening einer Mediengesellschaft. Sie liefern nicht nur dem gelangweilten Zuschauer immer neue Aufreger. Sie verraten auch viel über den inneren Zustand der Gesellschaft. Sie haben eine Funktion in der Politik.
Wir haben einen Gast, der alles darüber weiß, weil er es seit Jahren als Journalist erkundet und begleitet: David Schraven leitet das Ressort „Recherche“ am Content Desk der WAZ-Mediengruppe. Zuvor schrieb er für die „taz“, die Süddeutsche Zeitung und als freier Journalist für „Welt“. 2008 bekam er den „Wächterpreis“ der Tagespresse für seine Enthüllungen zum PFT-Giftskandal an der Ruhr. – Er wird uns aus seiner Sicht und Erfahrung mit Aspekten, Thesen, Fragen und Beispielen beliefern.
Vorab nehme ich mir ein paar Minuten.
Skandale sind ein Merkmal der freien Gesellschaft. Diktaturen haben keine Skandale. Sie sind der Skandal.
Der Vorgang ähnelt einer Infektion. Ein unerwünschter Erreger dringt in den Organismus ein. Der schickt seine Fresszellen aus. Zuckungen, Fieber, Durchfall sind die Symptome des inneren Kampfes. Die Krise ist der Umschwung. Der Körper ist zunächst noch geschwächt, hat aber auch Antikörper entwickelt, die ihn künftig besser schützen.
So gesehen ist der Skandal nicht nur ein Ereignis, sondern eine Methode, mit der sich die Gesellschaft ihrer selbst vergewissert. Die ist aber kein homogenes Feld. Was den einen in Wallung bringt, lässt den anderen kalt. Große Skandale der Geschichte sind uns heute unbegreiflich. Damals wie heute hängt alles von der Interessenlage der Parteien ab. Der Sieger bestimmt die Deutung. Auch die Art der Erinnerung.
Eine mitentscheidende Rolle spielen die Medien. Sie spiegeln die Realität. Sie sind aber auch Hohlspiegel. Sie wählen aus. Sie blähen auf oder verdichten. Sie sind nicht nur Faktum, sondern auch Faktor der Gesellschaft.
Die sogenannten Neuen Medien potenzieren diesen Mechanismus durch Schnelligkeit, Allgegenwart, massenhafte Vernetzung, Mobilität der Geräte und schier unendliche Speicherkraft.
In Sekunden entsteht eine gewaltige Öffentlichkeit. Aus der privaten Deckung heraus kann praktisch jeder einen Sturm entfesseln, dessen Wirkung nicht mehr zu steuern ist. Macht und Verantwortung stehen in keinem vernünftigen Verhältnis.
Jeder Skandal ist anders. Er ist situativ und personal bestimmt und somit nicht zuverlässig planbar.
Wer weiß, worüber sich eine Gesellschaft empört, findet Rückschlüsse auf deren Normen und Konventionen. Vieles läuft subkutan und in komplexer Vernetzung mit anderen Ursachen und Wirkungen. Simple Wenn-Dann-Formeln funktionieren nicht.
Es geht nur zum Teil um Tatsachen. Eher um Meinungen, Anmutungen, Gefühle und Leidenschaften. Jeder Skandal ist mehrdeutig. Er entsteht im Kopf der Leute.
Skandale können schwerste politische Ereignisse auslösen, sogar Revolutionen oder Kriege. Dann nämlch, wenn sie die Lunte am schon gefüllten Pulverfass entzünden.
Skandale können die Verlogenheit einer Gesellschaft entlarven und so das reinigende Gewitter werden.
Skandale werden zum gezielten Mittel des politischen Kampfes, wenn man sich mit dem Gegner nicht mehr argumentativ auseinandersetzen will. Exzessives Skandalisieren gefährdet auf Dauer das System.
- Immer weniger Bürger sind noch bereit, sich um ein politisches Amt zu bewerben oder sich für bedeutende Projekte zu exponieren.
- Das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit ihrer Repräsentanten unterschreitet die erträgliche Linie.
Der Skandal ist eine menschliche Konstante
Es wird ihn immer geben. Er gehört zur sozialen DNA unserer Spezies. Das Phänomen ist unkaputtbar. Es wechselt die Kulissen und Kostüme. Das Stück ist immer das gleiche. Es erscheint vielen als das Böse in der Gesellschaft. Vielleicht aber ist es nur das „sogenannte Böse“, denn Skandale haben positive und negative Wirkungen zugleich. Die Kunst besteht darin, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Dabei kann unser Gast uns helfen. – Ich hätte da gleich eine Frage: Wie entdeckt man überhaupt einen Skandal?