„Geheimniskram“ – Handelsblatt, 8. November 2013
„Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten.“ Der Lieblingssatz aller Rasterfahnder ist verbreitet wie falsch.
Der Mensch ist auch dadurch definiert, dass er Geheimnisse hat. Ein kleines Kind zeigt erste Anzeichen seiner Persönlichkeit, wenn es Spielzeug oder sich selbst vor anderen versteckt. Ein Geheimnis bewahren können, macht Freude und Freunde. Später ist das eigene Zimmer oder das Tagebuch Ort lebenswichtiger „Geheimnistuerei“.
Vor anderen ein Geheimnis haben ist nicht nur Wesensmerkmal des sich entwickelnden Kindes. Es definiert auch das Verhältnis zu den anderen, zu Eltern und Geschwistern. Man traut ihnen zu und fordert es von ihnen, dass sie ein Geheimnis respektieren. Es macht sie zu Vertrauten, mit denen man verkehren möchte, weil man vertrauen will und kann. Es übt die eigene Fähigkeit, ein fremdes Geheimnis zu respektieren. Wehe den Eltern oder Geschwistern, die dieses Vertrauen enttäuschen! Sie verraten nicht nur das Geheimnis. Sie zerstören ein Verhältnis. Sie verraten einen Menschen.
Sie zerrütten die Kommunikation. In der Masse reduzieren sie die Gesellschaft auf niedrigeres Niveau: Komplizenschaft, Gewaltsamkeit und gegenseitige Verachtung.
Diktatoren sind mentale Krüppel. Sie ertragen nicht, dass ihre Untertanen Geheimnisse haben. Sie verwanzen und bespitzeln das Land. Mit größtem Aufwand versuchen sie, in privateste Winkel zu leuchten. Eigenwillige Gedanken betrachten sie als „Verschmutzung“, die man mit Gehirnwäsche bereinigen muss. Die Mielkes aller Zeiten träumen von lückenloser Überwachung. Ihre Lieblingsvision ist ein Volk von Funktionären, das im Gleichschritt freiwillig, ahnungslos und begeistert seine innersten Regungen preisgibt. So kann man sie widerstandslos in jede Richtung steuern. – Und jede Richtung ist der Untergang.
Mit den heutigen Möglichkeiten der Überwachung laufen die Mielkes zur Höchstform auf. Nicht die Technik, ihre menschenverachtende Haltung ist das Widerliche. Nicht technischer Fortschritt, sondern dass sie ihn missbrauchen, ist das Entscheidende. Geheimdienste sind nur ihre Vollstrecker.
Ich sollte von der NSA-Affäre reden, aber dafür reicht der Platz nicht.