Sonderbeitrag zur Vorwahlberichterstattung – Handelsblatt, 16. September 2013

Aufbruch – Wie alt ist die Neue Mitte?

Von Bodo Hombach

„Neue Mitte“ – das war der Versuch, neue Realität durch Betitelung erkenn- und diskutierbar zu machen. Keineswegs schlichte Wahlkampfparole. Nach fünfzehn Jahren muss man sich befragen lassen. Wer Herr des Verfahrens bleiben will, fragt sich am besten selber. Was wurde aus den Visionen und Strategien, die damals in den Ring geworfen wurden? „Damals“ das war 1998, als das „System Kohl“ nach sechzehn Jahren an innerer Auszehrung litt und das Wort „Machtwechsel“ seinen Schrecken verlor. Eine signifikante Menge von Wählern sah Deutschland im Reformstau versinken. Sie merkte auf und spitzte die Ohren, als die Opposition versprach: „Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser.“ – Neben dem hohlen Pathos von „geistig moralischer Wende“ war das ein pragmatischer Ton, den Viele nachvollziehen konnten.

Quer zu den Ideologien

Wer das Gras wachsen hörte, wusste längst: Da war etwas, das stand quer zu allen Ideologien und wolkigen Heilsversprechen, auch zu parteilichen Traditionen und Ritualen. Da waren Leute, die ihrer eigenen Wahrnehmung glaubten, egal, was auf Parteitagen beschlossen wurde. Frischer Ostwind zerbröselte zusätzlich alten Glaubenseifer. Es wurde klarer, dass die Welt nicht restlos aufgeteilt war zwischen Links und Rechts, Oben und Unten, Gestrig und Morgig. Man konnte Leuten – und nicht nur jungen – begegnen, die statt neuer Gedanken neues Denken wagten, nicht mit Schaum vor dem Mund, Missionierungseifer oder Sezessionsgeschrei, sondern mit kühler Nachdenklichkeit und guten Gründen. Da war eine Bereitschaft und Lust, alte Blockaden aufzubrechen und – auf die Gefahr eines Schnupfens – die Fenster aufzureißen. Man wollte Ergebnisse, nicht Ankündigungen, Fortschritte, nicht „den“ Fortschritt. Pragmatismus war gefragt, denn die Krise war spürbar. Längst ein breites, internationales Thema, hatte der gefühlte und tatsächliche Reformbedarf nun auch in Deutschland einen Resonanzboden. Man war es leid, dass gute Ideen auf der langen Bank der Verwaltung vertrockneten, um zuletzt von listigen Regelwerkern wegparagraphiert zu werden oder im Ritual der politischen Klasse wie ein Stück Kautabak so lange hin- und hergeschoben wurden, bis man sie ausspucken konnte.

Trägerwelle „Sozialdemokratie“

Trägerwelle der neuen Aufmerksamkeit war die Sozialdemokratie. 1998 erhielt die SPD 20,2 Millionen Zweitstimmen (= 33,2 Prozent aller Wahlberechtigten). Das waren 4,6 Millionen Stimmen mehr als 1990, wo die Partei – entgegen allen Erwartungen – einen schweren Einbruch erlitten hatte. Der Wiedervereinigungsbonus hatte nicht gezündet. Viel dramatischer war der Absturz: 2002: 18,5 Millionen, 2005: 16 Millionen, 2009: 9,9 Millionen.

Zurück zum Erfolgskonzept 1998: Das Schlüsselwort hieß plötzlich „Innovation“. Das klassische Ziel der Partei „Gerechtigkeit“ fiel in seiner Bedeutung für das Publikum auf den zweiten Rang. „Von denen, die 1998 SPD-Wähler waren, verorteten sich selbst über 50 % in der politischen Mitte und deutlich weniger als 40 % im eher linken Spektrum.“ (Manfred Güllner, forsa).

Man spürte es inhaltlich und kulturell in jeder Debatte: Die politischen Mitten der großen Parteien waren einander näher als ihren eigenen Flügeln. Die machten die lauten Geräusche. Man sang nicht mehr „die alten Lieder“ („… Brüder das Sterben verlacht… „). Der – früher gerühmte – hundertprozentige Parteisoldat („Die Partei, die Partei hat immer recht“) war jetzt Risikopatient. Die „neue Zeit“ zog nicht mehr mit dem alten Sozialismusverständnis und erst recht nicht mit dem realen Sozialismus.

Die Politik der Neuen Mitte stocherte nicht mehr im üblichen Nebel des Missvergnügens, um dann mit einem „Könnte, Sollte, Müsste“ niederzukommen. Sie wollte einer real existierenden Sache einen Namen geben und die Probleme und Zusammenhänge nicht mehr leugnen. Auch wenn sie durch die klassischen Parteibrillen nicht sichtbar waren. Das war Charakterisierung, aber auch Selbstfindung. Es war Interpretation und Appell zugleich, kein Aufgabenkatalog, den es abzuarbeiten galt, sondern Definition eines Führungsauftrags. Er musste die politischen Schlussfolgerungen und Aufgaben definieren.

Beherzte Häutung

Die Stunde war günstig für ein neues Stück auf der deutschen Bühne. Sein Titel war „Aufbruch“ im Doppelsinn des Wortes als Beginn eines neuen Weges und als beherzte Häutung abgestorbener Zellen. Das Motto wandte sich an ein Publikum, das sich nicht mehr im Abonnement der Subventionen und verzogenen Gewohnheiten gegen die Herausforderungen von mehr Eigenverantwortung einigeln wollte, sondern bereit war, sich von neuen Perspektiven aufrauen zu lassen.

Die „Moderne“, das waren jetzt die Einübung globaler Handelsstrukturen, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, die Dynamisierung der Sozialsysteme. Es war – frei nach Kant – der Hervorgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, ein Akt der Aufklärung also, auch der Individualisierung, aber mit dem Ziel eines Gemeinschaftsbewusstseins auf höherer Ebene.

Nur ein aktivierender Staat, pragmatisch geerdet, konnte überzogenes Anspruchsdenken in Frage stellen und Gewohnheiten aufbrechen, deren ganzer Sinn darin bestand, dass sie „liebgeworden“ waren. Wirtschaftsliberalismus und Dirigismus galten als die zwei Seiten einer Medaille. Die „Neuen Mitte“ behauptete eine dritte: Die Utopie der Gerechtigkeit sollte durch den Begriff der Fairness fassbarer werden. Das Ziel war eine Gesellschaft des fairen Ausgleichs und nicht der ideologisch definierten „gerechten Umverteilung“

Im Souffleurkasten saß eine Sozialdemokratie, die ihre eigenen Fortschritte – wie breite Bildungserfolge und möglich gemachte Aufstiege aus unteren sozialen Schichten – stolz integrierte. Sie bot – so die Hoffnung – im Spannungsverhältnis ihrer Flügel die nötige Energie. Sie galt mit ihrer fast 150jährigen Geschichte als Garant für Gemeinwohlorientierung und verlässlicher Immunfaktor gegen Klientelpolitik. Mehrfach hatte sie Modernisierungskraft bewiesen. Mit ihrer Neigung zum leidenschaftlichen Diskurs konnte sie Labor und Windkanal der Argumente werden, auch explosive – weil durch Interessen betonierte – Reagenzien entschärfen. – Wenn es hier gelang, war es überall möglich.

Ensemblespiel

Das neue Stück setzte nicht auf Saison und durchreisende Stars, sondern Ensemblespiel. Leistungsträger und Modernisierer, Arbeitnehmer und –geber, Gewerkschafter und Betriebsräte, jeder hatte seine Rolle, aber im gleichen Stück. Aus der Langen Bank konnten Runde Tische werden. Dort würde man sich immer noch gelegentlich vor’s Schienbein treten, sich aber auch in die Augen sehen, – zweifellos eine höhere Stufe der Kommunikation.

Es gab Vorbilder. Das holländische „Poldermodell“, ein Konsensverfahren, das in einer gemeinsamen Anstrengung aller relevanten Gruppen das politisch und wirtschaftlich Richtige möglich machte, faszinierte auch hierzulande. Die Übersetzung in deutsche Verhältnisse erschien sinnvoll.

Nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Schemas und der Wiedervereinigung war ein neuer Gesellschaftsvertrag fällig. Es gab verschiedene Schauplätze: Die Versöhnung von Ökonomie und Arbeitsmarkt, die Dynamisierung des Wachstums mit gerechtem Anteil für jeden, Innovation und Kontinuität, Kooperation statt kräftezehrender Konkurrenz.

Gerhard Schröder fasste das Konzept in fünf Grundsätzen zusammen: Beschäftigungswirksamkeit aller Maßnahmen, radikaler Pragmatismus bei der Rückeroberung politischer Handlungsfähigkeit, Modernisierung mit sozialer Verantwortung, schonungslose Selbstkontrolle, um Irrwege abzukürzen und Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Gruppen, auch jenseits formaler Zuständigkeit.

Wer über die neue Politik nachdachte, war sich bewusst, dass es keine Patentrezepte gab. Das Stück hatte wenig einstudierte Rollen, also mehr Raum für Improvisation. Es verließ sich auf den entscheidenden Vorzug der offenen Gesellschaft gegenüber allen autokratischen Systemen: „Man kann ruhig darüber sprechen“ (Spoerl). Der freie Diskurs erzeugt einen Überfluss an Alternativen (Tony Blair: „Think the Unthinkable“ – Denkt das Undenkbare!). Man kann wählen und sich für die vielleicht Beste entscheiden. War sie nicht gut, ist eine Kurskorrektur möglich, ohne große Schäden und relativ unaufwändig (Brecht: „Es geht auch anders, aber so geht es auch.“)

Ernüchternde Erfahrungen

Das Konzept wurzelte in den Gegebenheiten, und es war seiner Zeit voraus. Wie immer in solchen Momenten der Geschichte, gab es Heizer und Bremser. Die Letzteren beklagten jeden Wandel als Verrat an der heiligen Sache. Die Ersteren machten ernüchternde Erfahrungen.

Das „Bündnis für Arbeit“ z. B. verkaufte sich unter Wert. Man traf sich am neu gezimmerten Runden Tisch, aber zum altbekannten Fingerhakeln. Funktionärsdenken erzeugte uneigentliches Sprechen. Plötzliches Entgegenkommen des „Gegners“ erschien als eigener, strategischer Fehler. Man spielte Mikado: Wer sich bewegte, hatte verloren.

Ein zweiter Runder Tisch stand zumeist im Bonner Kanzlerbungalow. Dort trafen sich höchstrangige sozialdemokratische Regierungsvertreter europäischer Staaten (u.a. der Brite Peter Mandelson, der Franzose Pierre Moscovici, heute Finanzminister seines Landes) und Demokraten der Clinton-Administration. Sie erarbeiteten ein Reformkonzept, das den Aufbruch auf breiter (kontinentaler und transatlantischer) Basis fördern sollte. Sie hofften, innerhalb der europäischen Sozialdemokratie und den Linksparteien eine Debatte anzustoßen. Zum Beispiel fragten sie sich, wie die sozialen Sicherungssysteme unter erheblich veränderten Bedingungen (Massenarbeitslosigkeit, Migration, Demographie etc.) finanzierbar und dauerhaft stabilisiert werden könnten. In nahezu 10jähriger Vorarbeit hatte eine Wissenschaftlerrunde in Nordrhein-Westfalen eine reiche, zum Teil schon veröffentlichte Basis gelegt. Durch den Übereifer eines Unbeteiligten kam ein Zwischenergebnis dieser breit geplanten und angelegten Debatte anlässlich einer Pressekonferenz mit Tony Blair und Gerhard Schröder auf die Tische mitreisender undenglischer Journalisten. Das war von den daran Arbeitenden nicht vorbereitet, nicht einmal vorgesehen. Die Debatte sollte in den Parteien beginnen. Nun war das Etikett „neoliberal“ eilig aufgepappt. Weil es als „Schröder-Blair-Papier“ die Öffentlichkeit erreichte, wurde das noch verstärkt. Damit war es nur noch sozial-ökonomischer „Sprengstoff“ und Wahlkampfmunition. Die Hoffnung auf das große, grenzüberschreitende und innerparteiliche Gespräch platzte. Der Inhalt interessierte nicht. Es wurde eines der am heftigsten geschmähten und wenigstgelesenen Dokumente der jüngsten Zeit.

Reformen kamen trotzdem voran, aber es dauerte lange, bis sie konkret wirksam wurden. Aufbruch ist immer auch Umbruch. Der fordert Spannkraft und Geduld. Jeder Wahlkampf – und davon gibt es viele – bringt beides außer Atem. Eine Konzeption mit der Schrittweite von Jahrzehnten hat es schwer, sich denjenigen verständlich zu machen, die jetzt und hier unter den überkommenen Verhältnissen leiden. So blieben auch die Reformgegner stark und meldeten sich immer wieder zu Wort.

Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes war vernünftig und fällig. Da dieser Markt aber mangels Angebot kein wirklicher war, erschienen die Maßnahmen den Betroffenen als Trick der Kapitalseite, um nur die Shareholder bei Laune zu halten. Statt sinnvoll gefördert fühlten sie sich sinnlos gefordert.

Kurzarbeit, Minijob, Leiharbeit, Ich-AG. Die differenzierte Palette von Möglichkeiten, trotz Wirtschaftsflaute „im Spiel“ zu bleiben, ersparte vielen Arbeitnehmern den Absturz in die Dauerarbeitslosigkeit. Das empfindliche Gleichgewicht der Tarifpartner – eigentlich ein Erfolgsgeheimnis der Bundesrepublik – geriet jedoch ins Schwanken. Hunderttausende fühlten sich ins tiefe Wasser gestoßen mit dem Ruf „Nun schwimmt mal schön!“ Sie empfanden es als Zynismus und misstrauten der akrobatisch geschönten Arbeitslosenstatistik.

Das Arbeitslosengeld II (im Volksmund „Hartz IV“) zur Abfederung sozialer Härten und zugleich gemeint als Sprungbrett in neue Beschäftigungsverhältnisse kam im Gestus eines Almosens daher. Es brachte Millionen Arbeitslose in den Ruch der Drückebergerei.

Die richtige Entscheidung, angesichts der demographischen Entwicklung die Automatik des Versorgungsstaates zu mindern, um seine Lähmungswirkung zu verringern und eigene Vorsorge zu fördern, hatte unerwartete Nebenwirkungen.

Höhenrausch

Gewaltige Sparguthaben wurden über Nacht unternehmungslustig. Das Börsenspiel, früher eine Sache der Eingeweihten, war plötzlich Volkssport. Geld war nicht mehr Abbild der Realwirtschaft, sondern Selbstzweck. Die Finanzbranche erfand täglich neue „Produkte“ und kletterte im Höhenrausch, angefeuert vom Applaus der Anleger und Regierungen. Diese hofften, vom großen Roulette-Tisch würden genügend Brosamen für die Finanzierung öffentlicher Aufgaben fallen. Banken und Versicherungen „verbauten“ ihre überschäumende Liquidität in den USA, in Irland und anderswo, bis die Immobilienblase platzte und die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds geriet.

Heute erweist sich die Agenda-Politik der rot-grünen Koalition als Stabilitätsfaktor im Taumelflug von Wirtschafts-, Finanz- und Eurokrise. Deutschland blieben gefährliche Klippen und Untiefen erspart, und es gilt auch im europäischen Maßstab als Motor und Rettungsring. Der „kranke Mann“ der 1990er Jahre wurde zum beneideten Musterschüler.

Lieblingsspiel „Zerreißprobe“

Die Sozialdemokraten können davon allerdings bis heute nicht profitieren (forsa). Sie übten ihr altes Lieblingsspiel „Zerreißprobe“. Vom linken Flügel zog Lafontaine eine Menge zu „den“ Linken. Mehr noch stießen zur großen Partei der enttäuschten Nichtwähler. Die „Neue Mitte“ war eingekeilt. 2009 nahmen die Wähler Rot/Grün das Steuerruder aus der Hand. forsa rechnete der SPD vor: 780.000 innerparteiliche Kritiker der Agenda-Politik wanderten zur Partei der Linken ab, 710.000 zu den Grünen. Aber weit über 1 Million verlor die SPD an Union und FDP. Den Flüchtlingen gingen die Reformen zu weit oder aber nicht weit genug. Die Agenda-Politik hatte die Mühe des Säens, das Kabinett Merkel die Freuden der Ernte. – Ein Erfolg auf Pump, denn er steht nicht wirklich sturmfest stabil. Auch unter Schwarz-Gelb wuchs die Verschuldung von Staat und Gemeinden. Sie wuchs trotz sprudelnder Steuereinnahmen. Öffentliche Aufgaben blieben liegen.

Das Lächeln von Mona Merkel kommt an und beruhigt viele, aber die Republik erlebt eine Phase großer Unübersichtlichkeit. Die Politik gebärdet sich wie das gebrannte Kind. Sie ist kaum noch bereit, große wirtschafts- und industriepolitische Projekte energisch in die Hand zu nehmen und Führungsqualität zu zeigen. Unterhalb des Merkel-Bonus schwillt das Misstrauen der Bürger gegenüber der Gestaltungsfähigkeit von Politik an. Notwendige Strukturverbesserungen und technologisch-ökonomische Großtaten ermüden an Flash-Mobs, die oft mit gewaltiger Medienpräsenz argumentieren. Verlauf und Ergebnis der Energiewende wird modellartig vorführen, wie es ums Land bestellt ist. Elektrisierende Begeisterung ist da. Was aber, wenn sie auf physikalische Gesetze trifft? Die Platine hat alte Widerstände und kalte Lötstellen. Wird sie am Ende nützlich funktionieren oder im sozialen Kurzschluss verdampfen? – Die ganze Welt schaut mit Spannung zu.

Zwischenbilanz

Die Neue Mitte ist vereinsamt, tritt vielleicht auf der Stelle, einige suchen in absurden Richtungen, aber sie ist kein Phantom. Sie will neu entdeckt werden. Die Kanzlerin schreckt sie jedenfalls nicht ab. Wer die nötige Bodenhaftung hat, weiß: Es war gut und richtig, die Subventionierung der Vergangenheit zu beenden und den Versorgungsstaat zu vertikutieren. Es war gut und richtig, Eigeninitiative und Risikobereitschaft zu ermutigen. Es war gewiss nicht falsch, auch den Unternehmen neuen Spielraum zu verschaffen, in dem sie Wachstumspotenziale entfalten und nützliche Bündnisse knüpfen konnten. Noch immer ist Fairness – auch im Umgang mit Natur und Klima – die Soziale Frage des 21. Jahrhunderts.

Teile der SPD werden weiterhin – auch mangels innerparteilicher Überzeugungsarbeit – die fernen Chancen an ihrem akuten und historischen Gewissen messen. Das „Aggiornamento“ wird sich noch lange an alten Dogmen reiben. Die Taube in der Hand ist manchem halt weniger wichtig als der Spatz auf dem Dach. Laut Professor Manfred Güllner von forsa rechnen sich heute kaum noch 30 % der SPD-Anhänger „der politischen Mitte“ zu, aber 55 % dem linken Spektrum.

Zurück in die Zukunft

Menschen haben vielerlei Eigenschaften. Die verschiedenen Seelen in einer Brust lassen sich nicht trennscharf einer einzelnen Partei zuordnen. Die Bürger der Neuen Mitte sind auch nach zwei Jahrzehnten noch immer modern; vielleicht sind sie die Modernen von Übermorgen. Sie sind es, weil die Grundrechenarten nicht veralten. Ihre Zahl – das belegen aktuelle Studien – ist nicht geschwunden, sondern gewachsen, ihre Frustration allerdings auch.

Übrigens: Die Politik der Neuen Mitte war nicht etwa sensationell neu. Sie war ein konservativ freundlicher Blick auf alte Erfahrungen und erprobte Gewissheiten. Sie war die Rückbesinnung auf die Tugenden der Sozialen Marktwirtschaft. Personalität, Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohlorientierung, – die Erfolgsformel der Bundesrepublik stimmte noch immer, ihre Variablen waren nur mit neuen Werten zu füllen. Ludwig Erhard wäre einverstanden gewesen, sich die „Politik der Neuen Mitte“ widmen zu lassen.

Sie ist und bleibt unverstanden, wenn man sie nur als ein neues Sortiment im Warenlager versteht. Sie war und ist ein rationaler Weg, ein Werkzeug und Instrument zur Problemlösung. – Auf einer Geige kann man herumkratzen und mit öden Tonleitern die Nachbarn nerven. Man kann aber auch – in den richtigen Händen – damit schön und erfolgreich musizieren. In der alten „neuen Mitte“ gibt es sie noch – die immer notwendiger werdende Innovationsbereitschaft. Nicht nur Lust am Aktivwerden, sondern auch die Offenheit für rationale problemlösende Argumente und darauf bauendes Handeln.

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