„Vexierbild“ – Handelsblatt, 30. August 2013
Nicht britische Ironie, sondern 26.000 Befragte aus 59 Ländern erklären in BBC-Umfragen Deutschland zum beliebtesten Land der Welt.
Diese Außensicht mögen „die“ Deutschen in ihrem melancholischen Selbstbildnis kaum glauben. Während wir gern nörgelnd in unserer Suppe stochern, schauen die anderen begehrlich auf unseren Teller.
Wer in Deutschland aufrecht und geradeaus geht, steht im Verdacht, auf beiden Beinen zu hinken. Wo unsere Apokalyptiker mehr Zeit und Energie darauf verwenden, die nächste Katastrophe anzukündigen, als nötig wäre, sie zu verhindern, beneiden uns die gebeutelten Nachbarn um unsere wirtschaftliche Stärke, Kompromissbereitschaft und tröstlich langweiligen Parlamentsdebatten. Sogar – man denke! – britische Politikanalysten fordern Deutschland auf, eine stärkere Führungsrolle zu übernehmen, die es de facto längst habe. Es sei der „reluctant hero“, die widerwillige Hegemonialmacht, und solle – zumindest auf der MS Europa – die Brücke besetzen, anstatt sich mit der Heizerrolle zu begnügen.
Nun kann man über ein großes Land bekanntlich sagen, was man will, es stimmt immer irgendwo und irgendwie. Sogar der einzelne freilaufende Deutsche ist kein chemisch reines Reagenz, sondern hat mehrere Seelen in seiner Brust. Je nachdem ist er heute ein eigenbrötelnder Kotzbrocken und morgen ein zärtlicher Familienvater. Als es die Obrigkeit so wollte, war er im täglichen Dienst ein Menschenschinder und berauschte sich nach Feierabend an Beethovens „Neunter“.
Jede statistische Wahrheit ist zugleich eine statistische Lüge. Das reale Leben definiert sich durch seine Widersprüche, und zwischenstaatliche Ansichtskarten können sehr rasch wechseln.
Mit der Führungsrolle ist das so eine Sache. Ist es nicht allemal besser, wenn uns die Nachbarn für bedeutender halten als wir selbst? Sollten wir wollen, es wäre umgekehrt? Zeigt sich nicht die wahre Stärke in der Bescheidenheit und im Selbstzweifel? Dummköpfe wissen immer genau, was sie wert sind. Sie protzen mit ihren Erfolgen. Der Weise lernt aus seinen Niederlagen. Er bietet sich nicht selbst als Vorbild an. Er ist aber den Vielen dankbar, die in seinem Heimatland einen guten Job tun.