Buchbesprechung: „Willy Brandt – ein Leben, ein Jahrhundert“ von Hans Joachim Noack – Handelsblatt, 26. Juli 2013
Hans Joachim Noack:
„Willy Brandt – ein Leben, ein Jahrhundert“
Bodo Hombach – Juli 2013 – Handelsblatt
Noch eine Biografie über Willy Brandt? Gibt es Neuigkeiten über den ersten SPD-Kanzler der Bundesrepublik? Und/oder: Gibt es Gründe für seine Partei, den Staat, den Kontinent, sein Leben neu zu lesen?
Hans-Joachim Noack erinnert sich als Journalist und langjähriger Ressortchef Innenpolitik des SPIEGEL. Er hat die Titelfigur seines Buches in großer Nähe erlebt und kritisch begleitet. Wenn er ein solches Werk in Angriff nimmt, regelt er auch einen Teil des eigenen Nachlasses. Er beteiligt den Leser an einer Faszination, die er selbst jahrzehntelang spürte und die mit zeitlichem Abstand nicht schwand, sondern wuchs.
Noack gibt nicht den Historiker. Er schreibt brillant als Journalist und Zeitgenosse. Ihm geht es um Nähe, nicht um Distanz. Er besichtigt ein Jahrhundert, aber mehr noch ein Leben. Also interessieren ihn die Wege und Umwege, die Erkenntnisse und Irrtümer, Freundschaft und Verrat. Er schreibt ein Stationendrama, einen Entwicklungsroman vor dem Panorama großer Geschichte, natürlich mit den Mitteln des sorgfältig redigierten Sachbuches.
Sein Protagonist ist dafür ein dankbares Objekt. Vom kleinen Plakatkleber des Lübecker Arbeiterviertels zum Kanzler des deutschen Weststaates und Nobelpreisträger. Vom links-drehenden Theoretiker und Traktatschreiber zum visionären Staatsmann. Vom Exildeutschen in Skandinavien zum Entspannungspolitiker nach außen und innen.
Willy Brandt erscheint hier als eine deutsche Ausnahmebegabung, der es nach und nach gelingt, das Machbare zu tun, ohne seine Prinzipien zu verraten. Er füllt nicht nur die Chronologie mit seinen Fehlschlägen und Triumphen. Entscheidender ist seine Fähigkeit, Ereignisse zu deuten, besonders in aufgeregter Zeit. So erkannte er etwa den Mauerbau als Eingeständnis sowjetischer Schwäche, was ihm erlaubte, die brennende Lunte am Berliner Pulverfass zu löschen und eine neue Flexibilität im Umgang mit dem Osten einzuleiten.
Siegfried Lenz beschrieb einmal Brandts Sprechstil als „Entstehung von Gedanken“ und als „die Mühsal eines Überzeugungsprozesses, bei dem man sich auf Wörter verlässt.“ Das ermöglichte Brandt, Sätze zu meißeln, die ihn noch immer konnotieren („Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ „Wir sind Ge-wählte, nicht Er-wählte.“) Es erlaubte ihm auch, zu erkennen, wann die Wörter versagen. So wurde eine Geste, der Kniefall in Warschau, zur beredtsten „Ansprache“ seiner politischen Amtszeit.
Noack liefert. Er ist genau im Detail und hat doch den Panoramablick. Man liest ein großes Kapitel der deutschen Sozialdemokratie, gesehen durch ein Temperament, und doch immer wieder bezeichnend für Glanz und Elend der Partei. Ihr ewiger „Wille zur Ohnmacht“, ihr Verzicht auf das Machbare aus Sorge, das Unerreichbare nicht mehr zu wollen, ihr unkoordiniertes Flügelschlagen, wenn die Theorie an der Realität lernen soll. In der Bundesrepublik ging es immer nur dann voran, wenn die Konservativen sozialdemokratisch wurden und die Sozialdemokraten konservativ.
Noack gelingt ein schwieriges Unterfangen. Er schreibt sein Buch gegen die Ahnungslosigkeit der Nachgeborenen. Er attackiert deren latente (und wachsende) Geschichtslosigkeit. Am Ende erzählt er das Drama aller historischen Persönlichkeiten, die das Vokabular ihres Lebens verlieren. Sie wissen noch am eigenen Leibe, was alles passieren konnte, aber damit langweilen sie die jungen Macher und Pragmatiker, die noch nie einen Soldatenfriedhof gesehen haben. Die Quintessenzen der Alten lesen sie nur noch als bigotte Albumsprüche: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ (Letzter Gruß des todkranken Willy Brandt an die Sozialistische Internationale)
Der Leser von Noacks Buch ist dankbar für die Auffrischung von Kenntnissen. Er erlebt den Weg eines Politikers durch die Fährnisse und unerträglichen Widersprüche seines Jahrhunderts. Die Höhepunkte der Lektüre sind jedoch Momente, in denen er selber innehält und nachdenklich aus dem Fenster blickt.
Gut gewählt das Titelfoto des Buches. Es zeigt den grübelnden, resignierten und vom Alter vernarbten Kopf des Menschen Willy Brandt, gestützt in die Schwurfinger seiner rechten Hand.
Man hat geglaubt, es mangle nicht an Brandt-Biografien. Das war ein Irrtum. Diese hat gefehlt.