„Schuld oder Scham?“ – Handelsblatt, 26. Juli 2013

Irische Banker brezelten sich vor Lachen über den eigenen Staat, dem man in fröhlicher Systemrelevanz frei erfundene Verluste unterjubeln konnte. Als die Rede auf die EU und die Deutschen kam, die beim Raubzug durch die Gemeinde auch noch den Rettungsschirm halten, kriegten sie sich gar nicht mehr ein und höhnten „Deutschland, Deutschland über alles!“ Was ist da los?

Sozialpsychologen unterscheiden zwischen Schuld-Gesellschaft und Scham-Gesellschaft.

In der Ersteren tut man von innen heraus bestimmte Dinge nicht, weil man sie einfach nicht tut. Man schreckt vor Betrug zurück, weil man sich in die Opfer versetzen kann. Man weiß um die Zerbrechlichkeit des sozialen Zusammenhalts und will sich nicht zu dessen Nachteil Vorteile verschaffen. Man hält an der roten Fußgänger-Ampel, weil ein Kind in der Nähe sein könnte. Man lässt sogar im Hotelzimmer nicht unnötig das Licht brennen, obwohl es nicht auf die eigene Stromrechnung geht.

Anders die Scham-Gesellschaft. Hier wäre es nur schlimm, von äußeren Autoritäten erwischt und/oder kritisiert zu werden. Maßstab aller Dinge ist das Interesse der Sippe, der Vorteil, der persönliche Zuwachs an Macht und Reichtum. Man will das schnelle Geschäft. Man lässt in Hungerländern produzieren, weil es die Gewinnmarge erhöht, unter welchen Arbeitsbedingungen, geht einen nichts an. Man verkauft hoch spekulative Finanzprodukte, weil man von der Abschlusssumme profitiert. Der spätere Schaden des Kunden ist dessen Sache.

Die Scham-Gesellschaft ist die primitivere Stufe der sozialen Evolution. Es kostet Jahrhunderte und immer neue Anstrengungen, gegen sie ein Wertegerüst zu errichten und es im persönlichen Verhalten zu verankern. Ohne das ist keine höhere Zivilisation möglich. Wenn nur noch Kontrollen helfen, geht es in Richtung totaler Kontrolle mit den entsprechenden Lähmungserscheinungen. Eine moderne Gesellschaft, die global friedlich und verlustarm existieren will, braucht Vertrauen. Das aber entsteht nur in der Schuld-Gesellschaft nach dem Grundsatz: „Was du nicht willst, das man dir tut…“

Wem das altbacken klingt und wie ein Albumspruch für notorische Verlierer, der sollte wieder auf Anfang gehen und diesen Artikel noch einmal lesen.

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