„Zivilcourage üben“ – Handelsblatt, 28. Juni 2013
Es gibt namenlose Helden, die selbstlos eingreifen, wenn ein Verbrechen geschieht. Häufiger liest man von vielen Anderen, die hinsehen, aber als Voyeure einer Gewalttat, die sie nicht betrifft.
Der Einzelne ist leichter bereit, einzuschreiten und sich sogar selbst zu gefährden. Das Kollektiv, das die Tat am ehesten verhindern könnte, hält sich feige zurück.
Sozialpsychologen versuchen, dieses Verhalten zu enträtseln. Sie nennen es „Verantwortungsdiffusion“. Je mehr Personen anwesend sind, desto mehr „verdünnt“ sich das Gefühl, „man“ müsste was tun, um dem Opfer beizustehen. Der potentielle „Held“ als den sich mancher empfindet, seitdem er Superman gesehen hat, verwandelt sich in den „Zuschauer“, der sich nicht zuständig fühlt. Schiller war nahe dran, als er in Hexametern vermerkte: „Sieht man sie einzeln, ist jeder halbwegs vernünftig. / Sind sie in corpore, gleich wird ein Dummkopf daraus.“
Vermutlich verstärkt unser Medienkonsum diesen Effekt. Als die Gladbecker Geiselnehmer mit ihrem Fahrzeug einen Tag lang in der Kölner Fußgängerzone standen, die Pistole am Kopf ihres Opfers, bildete sich um sie herum eine Menschentraube, die das Geschehen beglotzte, frei nach Loriot: „Lasst doch das Kind mal heran!“ – Journalisten eilten (begeistert?) herbei, unterhielten sich mit den Gangstern. Jeden Moment konnten Schüsse fallen, offenbar erfasste niemand die Gefährlichkeit der Situation. Es war der totale Wirklichkeitsverlust. Man fühlte sich als Zuschauer eines Fernsehprogramms. Wenn es ungemütlich wurde, konnte man ja umschalten…
Zivilcourage. Kann man ein defektes Gen im Humanum der Gesellschaft und des Einzelnen reparieren? Kann man richtiges Verhalten durch Training lernen?
Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr und der Sicherheits- und Gebäudedienstleister „KÖTTER Services“ haben die Stiftung „muTiger“ gegründet. Teilnehmer ihrer kostenlosen Kurse lernen, bewusst hin- statt wegzusehen. Sie üben, kritische Situationen richtig einzuschätzen und Handlungsspielraum zu erkennen. Zugleich entsteht ein Netzwerk für Zivilcourage. Aus „gemeinsam sind wir schwach“ soll „gemeinsam sind wir stark“ werden. – Eine „mu-Tige(r)“ Initiative, die Aufmerksamkeit, Mit- und Nachmacher verdient.