„Unverhältnismäßige Verhältnisse“ – Handelsblatt, 14. Juni 2013
Lüpertz einer der bedeutendsten Maler der Gegenwart ist. Er hat – das weiß Gott
und die Kunstgeschichte – schon mehr Regeln verletzt, als sich an der roten Ampel zu gefährden.
Die Radfahrerin entpuppte sich als Streifenpolizistin. Sie diagnostizierte Widerstand gegen die Staatsgewalt, drückte ihn – gefühlt – schmerzhaft gegen eine Hauswand, Handschellen klickten.
Bald bliesen ringsum Martinshörner (demnächst mit amerikanischem Jaulen?!). Mehrere Streifenwagen eilten der Kollegin zu Hilfe. Den Passanten erschien die Szene als „Zugriff“ auf einen Schwerverbrecher. In NRW gibt es massenhaft unaufgeklärte Wohnungseinbrüche: Wer so herzhaft dienstlich behandelt wird, kann nur Schlimmes verbrochen haben.
Im Unrechtsstaat wäre das anders. Wer da auf offener Straße umstellt und verhaftet wird, darf getrost als unschuldig gelten. Im Rechtsstaat Deutschland käme keiner auf den Gedanken, hier hätte eine vielleicht nervöse Beamtin einfach nur überreagiert. Vielleicht hat sie ja tatsächlich schon oft gefährlichen Widerstand erlebt. Da zieht man es vor, erst zu handeln und dann zu verhandeln.
Das Gewaltmonopol des Staates ist nicht dessen Besitz. Es wurde ihm von den Bürgern verliehen, und die fühlen sich besser verstanden, wenn es nicht übergriffig ausgeübt wird. Zu den Verhältnissen im Land gehört eben auch die Verhältnismäßigkeit staatlicher Zwangsmaßnahmen. Nicht mit scharfen Mitteln durchsetzen, was man auch mit milderen – wie einer Ermahnung – erreichen kann.
Ein SPIEGEL-Journalist filmte kürzlich mit dem Handy die Obrigkeit beim unverhältnismäßig harten Einsatz gegen eine Bahnreisende. Schlimme Bilder im Netz. Die Bahn hat sich entschuldigt.
Markus Lüpertz, als Zeuge seiner selbst, griff zum Zeichenstift und hielt die erschreckende Szene mit seinen Mitteln fest – sehr verhältnismäßig für einen Maler. – Schon oft hat sich Empörung in Kunst verwandelt.
Null Toleranz gegen Schwerverbrecher diente unserer Sicherheit. Respekt und Augenmaß gegenüber harmlosen Bürgern dient unserem Zusammenleben. Das mediale Auge muss sich schärfen.