„Notwehr mit Handy“ – Handelsblatt, 26. April 2013
26.04.2013
Notwehr mit Handy
Am Wochenende schockte ein Video bei SPIEGEL ONLINE. Es schien vom gesetzlosen Übergriff einer Gang russischer Bahnpolizei auf eine junge Frau, die sie fälschlich beschuldigten, einen ungültigen Fahrschein zu haben, zu berichten. Ein mitreisender Spiegel-Journalist beobachtete den Vorgang, berichtete und stellte dazu schockierende Bilder ins Web. Das war den Tätern höchst unangenehm. Sie versuchten, die Zeugenschaft zu unterbinden. Sie waren wohl unterwürfige und eingeschüchterte Bürger gewohnt.
Herrschaftsgebaren und der Missbrauch von Macht haben es schwerer. Auch autoritäre Systeme sind nicht mehr, was sie einmal waren.
Wer das Handy bei sich hat, ist nicht mehr allein. Im Gegenteil. Das kleine Ding erlaubt die totale Kommunikation in jedem Moment, überall. Auf Knopfdruck protokolliert es Ereignisse in der Nähe und stellt sie ins Netz. So gehen auch solche „ins Netz“, die das Licht scheuen und gern unter sich bleiben würden. Das Video offenbarte auch, dass der Staatsdiener, der die Linse zuhalten wollte und frech drohte: „Sie behindern einen Einsatz!“, kein Russe, sondern bundesdeutscher Amtsträger war. Der massive Einsatz wurde von eifrigen Mitarbeitern der Deutschen Bahn ausgelöst. Die hat sich nach der Veröffentlichung entschuldigt. Wenn jugendliche Banden Passanten überfallen, die Staatsmacht übergriffig wird oder Autobahnraser und -drängler sich in ihrer Blechburg allzu sicher fühlen, kann ein Video Flüchtiges festhalten und u.U. die Fahndung erleichtern. Die Bostoner Bilderflut hat allerdings auch Unschuldige an den Pranger gezerrt. Der explosive Mediengebrauch bietet guten wie üblen Machenschaften ein neues Betätigungsfeld. Er erweitert aber wie noch nie den Bereich des Öffentlichen.
In einer Gesellschaft, wo sich viele nicht mehr fragen, ist es „treu und redlich“, was ich da tue, sondern nur noch: „Was ist, wenn es herauskommt?“, ist die Omnipräsenz der vielen Aufzeichnungsmöglichkeiten eine für die Täter ungemütliche Situation. Sie meinen noch immer, im Halbdunkel oder in der Masse Herr des Verfahrens zu sein, während zufällige Zeugen ihre Übeltaten in konzertierter Aktion längst gerichtsfest dokumentieren.
Längst heißt es für selbstbewusste Zeugen: „Handys raus!“ Es ernüchtert Täter ungemein, sich später im Live-Mitschnitt wiederzuerkennen.