„Werteunion?“ – Handelsblatt, 19. April 2013

19.04.2013

Werteunion?

Die europäische Währungsunion hat Glanz verloren, politischer Glanz war eingepreist. Dafür ließ man ökonomische Naturgesetze in der Schublade. Die bringen sich in Erinnerung. Man kann „Währungsunion“ nicht spielen. Geld bildet wirtschaftliche Zustände ab. Es schafft sie nicht. Da bleibt die europäische Werteunion. Sie ist das „ceterum censeo“ in allen Talkshows. Sie ist der moralische Rettungsschirm, der uns über die ökonomische Unwirtlichkeit hinwegtrösten soll.

Ist nicht auch sie Illusion? Gibt es in den 27 Mitgliedsstaaten wirklich wirksam den familiären Grundkonsens? Sind die Errungenschaften der Aufklärung „Demokratie, unabhängige Justiz, Pressefreiheit, Menschenrechte“ gesicherte Überzeugung, oder spielen wir „Werteunion“? Lauern unter der dünnen Oberfläche europäischer Sonntagsreden nicht sprungbereit nationaler Egoismus, autoritärer Wille zur Macht, gelenkte Justiz, Unterdrückung von Opposition bis hin zu populistischer Stammtischpolitik? Man muss nicht nur in Richtung neue Mitglieder blicken. Auch in Stammländern der Union ziehen Ideologen und Demagogen ihre Krallen aus dem Schlamm und finden signifikante Zustimmung. In vielen neuen Mitgliedsstaaten scheiterte nach der Wende seriöse und freie Presse. Die alten Garden tauchten kurz ab, um bald schon in Seilschaftstärke die zarten Pflänzchen einer offenen Bürgergesellschaft sturmreif zu trommeln.

Aber Vorsicht! Bevor man sich mit Klischees zur Ruhe setzt: Die sozialen Unruhen der nahen Zukunft haben ehrenwerte Gründe. Wie soll eine junge Generation an europäische Werte glauben, wenn sie zur Rettung von Banken und Spekulanten auf eine würdige Gestaltung ihres einzigen Lebens verzichten muss? Jugendarbeitslosigkeit von 25 % ist nicht integrierbar. Sie führt zum kollektiven Trauma und zu irrationalen Verhaltenssprüngen. – In der Gemeinschaft ist Wichtigeres gefährdet als der Euro. Wie verlässlich ist also eine nur „beschworene“ Werteunion, wenn sie von der moralischen „Produktivkraft“ und „Realwirtschaft“ der Völker nicht gedeckt ist?

Wer für europäische Werte werben will, muss die Finanzwirtschaft vom hohen Ross holen und wieder zu Dienstleistern machen. Deren Verhalten hat geschafft, was kommunistische Agitatoren seit 1945 nicht schaffen. Der Kapitalismus ist in der Legitimationskrise und damit dieses Europa.

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