„Digitale Gesellschaft – Neue Bürgerpartizipation“ – Uni Bonn, 7. November 2012

Medien – insbesondere das Internet und die Wirkungen auf Politik und Gesellschaft

Digitale Gesellschaft – Neue Bürgerpartizipation

7. November 2012 Wintersemester 2012/13

Ich glaube, soviel wissen wir schon: Das Internet ist manches Mal ein lausiges
Instrument der Informationsversorgung. Mit Masse kaschiert es seine mangelnde
Verlässlichkeit, mit flinker Allgegenwart seinen verbalen Schaum und seine bunte
Bilderwelt. Auf jede Frage hat es Zigtausende von Antworten, von denen man immer
nur die erstbesten wahrnehmen kann. – Und im Hintergrund registrieren anonyme
Interessen jeden Klick, um Menschen in Profile zu verwandeln. – Weitere
Untiefen werden immer sichtbarer und gehören diskutiert:

· Schwarmintelligenz versagt leicht vor komplexen und schwierigen Fragen.
· Demagogen, Verschwörungstheoretiker und ideologische Vereinfacher haben
einen neuen Verstärker.
· „Flashmobs“, digitale Menschenjagd und „Shitstorms“ können Schaden stiften
und sich in der Anonymität der Masse ihrer Verantwortung entziehen.
· Ethische Standards, die sich nur langsam bilden und einprägen, können bei
labilen Naturen in wenigen Stunden korrodieren.
· Der ungeschützte Zusammenstoß verschiedener Kulturen und Bewusstseinsstufen
kann irrationale Konflikte heraufbeschwören.

Wer sich verlässlich informieren will, bleibt also noch lange auf der Suche nach Qualität. Niemand kann ihm abnehmen, die nötigen Kriterien zu entwickeln und einzuüben.

Aber das Netz ist ein tolles Werkzeug der Kommunikation. Da sprengt es praktisch alle Grenzen. Jeder kann mit jedem Kontakt aufnehmen, zu jeder Zeit und an jedem Punkt der Erde.

Die neuen Möglichkeiten scheinen uralte Träume zu erfüllen. Die Folgen des Turmbaus zu Babel, die Zerstreuung der Menschheit in zahlreiche Kulturen, Sprachen und Missverständnisse, könnten endlich wieder verschwinden. Wir erleben es mit großem Staunen:

· Riesige Menschenmengen verständigen sich über ein gemeinsames Ziel und verdichten sich auf bloßen Zuruf zu wirksamen Bewegungen.
· Herrschaftswissen verliert seine Macht. Bürgerinitiativen und öffentliche Debatten zeigen einen hohen Grad an sachlicher Kompetenz. Sie sind nicht mehr auf die Ohnmacht der Trillerpfeifen angewiesen.
· Folgenreiche Projekte der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft müssen sich argumentativ in der Öffentlichkeit behaupten. Die Zeit der abgekarteten Spiele im Hinterzimmer oder der formaljuristischen Genehmigungsautomatik ist vorbei.

Dieser letzte Punkt ist mir besonders wichtig. Das neue Medium erzeugt eine Phasenverschiebung in der Gestaltung von Öffentlichkeit. Deren Folgen sind noch längst nicht abschätzbar. Wenn sie zum Tragen kommen, werden wir in einer neuen Gesellschaft leben.

Deren Kennzeichen sind Transparenz und Bürgerbeteiligung. Deren Chance erwächst
– wie jeder sozialpsychologische Schub – aus einem Dilemma. Es ist der Offenbarungseid der sogenannten „Eliten“. Hochrangige Politiker warfen plötzlich den „Bettel“ hin und machten sich vom Acker. Moralische Instanzen wie Bischöfe und Bundespräsidenten stürzten vom hohen Ross. Die scheinbar mathematisch „cleane“ Welt der Wirtschaft und der Finanzen erwies sich als systemgefährdendes
Spielfeld für Glücksritter und labile Charaktere. Ganze Staaten manövrierten sich über ihre Wahlkämpfe in hoffnungslose Schulden und fanden in der Regierungsperiode nicht mehr heraus.

Hinzu kamen Zweifel an der Sinnhaftigkeit technologischer Großprojekte mit regelmäßiger Kostenexplosion (Hier wäre eine Schweigeminute für den Berliner Flughafen angebracht…), Zweifel an einer auf Ressourcenvergeudung ausgerichteten
Wachstumsideologie. Grenzüberschreitende Probleme wie der Klimawandel, die Armutsmigration, die organisierte Kriminalität und der Terrorismus. Abstiegsängste breiter Schichten des Mittelstands zerrütteten zusätzlich die alte Zuversicht:
„Die da oben werden’s schon richten. Die wissen doch, was sie tun.“

„Die da oben“ wirkten eher gelähmt. Das Parteienspektrum diversifizierte sich. Die Mitte dünnte zugunsten der Ränder aus. Lagerkämpfe erschwerten die Rückgewinnung der politischen Initiative gegenüber den illegitimen Mächten des Marktes.
Genug.

Diesen Katalog kann jeder mit eigenen Beobachtungen verlängern. Aber – und das ist ein positives Signal – er führte bisher nicht zu resignativem und radikalisierendem Verhalten. Stattdessen zu einem Aufwachen der Bürgergesellschaft. Sie fordert, genauer unterrichtet und intensiver beteiligt zu werden. Das Internet gibt ihr die Plattform.

Ein zweites Wunder zeichnet sich ab.
Auch in den Chefetagen der großen Unternehmen zeichnet sich ein neues Denken ab. Die Phase der Schockstarre und des rituellen Niedermachens jeder Rückfrage ist scheinbar vorbei.

In Kürze werden wir eine Studie des RWE in der Hand haben, die ganz neue Töne anschlägt. Sie konstatiert mit Genugtuung eine breite Akzeptanz der Bürger für das Jahrhundertprojekt Energiewandel. Sie entdeckt nicht Hindernisse, sondern Handlungsspielraum durch Partizipation und eine nie dagewesene Konjunktur der Bürgerbeteiligung. Im Grußwort des Vorstandsvorsitzenden Peter Terium heißt es:
„Die Energiewende mit ihren Konsequenzen wird Menschen und Wirtschaft noch
über Dekaden bewegen. Sie ist eine große Chance für Deutschland, wenn wir sie richtig anpacken. Wir müssen es schaffen, sie zu einem generationenübergreifenden Gemeinschaftsprojekt zu machen.“

Auch auf den folgenden 270 Seiten keine Nörgelei, welche die Suppe mit dem Haar ausschüttet. Stattdessen ein starkes „Yes, we can!“ Die Betonung liegt auf „we“ und meint die Gesellschaft als solche.

Das Unternehmen will „eine neue Dialog- und Beteiligungskultur“. Es stellt den Bürgern sein Know-how zur Verfügung und nicht entgegen. Es betrachtet Demonstrationen als gesellschaftlich akzeptiertes Ausdrucksmittel für persönliche Sorgen und sowieso als die Wahrnehmung eines demokratischen Rechts. Es nimmt zur Kenntnis, dass auch subjektive Befindlichkeiten eine objektive Tatsache
sind.

Dies ist nicht besonders raffinierte Imagepflege. Es ist Corporate Responsibility auf hohem Niveau.

· Sie hat begriffen, dass man sich auf den „großen Bruder“ Politik nicht mehr verlassen kann.
· Sie sieht ein, dass wichtige Ziele in der Öffentlichkeit mit guten Argumenten für sich werben müssen.
· Sie findet es in Ordnung, dass sich nur so die nötige Akzeptanz bei den Leuten erreichen lässt.
· Sie öffnet den Raum für Ideen und Lösungen. Auch Konflikte lassen sich vielleicht so flach halten, dass der Wende nicht mehr allzu viel Energie verlorengeht.

Ich unterbreche meinen Redefluss. Genug Stoff für ein ganzes Semester. Jetzt sollte unser Gast zu Wort kommen, und dann freue ich mich auf die Diskussion.

Als PDF herunterladen