„Europas Demokratie im Wandel“ – Uni Bonn, 5. November 2012

Bonner Lecture
Bonn, 5. November 2012

Eine glückliche Fügung: Vor vier Tagen sprach Herr Hans-Dietrich Genscher in
Berlin über Europa. Herr Sigmar Gabriel als Gastgeber ist anschließend Diskutant.
Heute ist es umgekehrt. Das liefert den experimentellen Beweis: Marxistisch-
materialistische Geschichtsbetrachtung ist irrende Theorie.
Menschen, selbst Zufälle, machen große Politik und Geschichte. Wo sollte das
besser belegt werden als hier bei der Bonner Akademie für Forschung und Lehre
praktischer Politik.

Die beiden Politiker sollen bei ihrer erneuten Begegnung genug Zeit haben. Ich
werde meinen Beitrag zu Europa auf unserer Web-Site und in der Europa-
Publikation der BAPP veröffentlichen. Prof. Dr. Gretschmann hat wunderbar
treffende Thesen eingereicht und vorgelegt.

„Demokratie ist ja ganz schön, / nur ein Führer müsste oben stehn. / Was fängt
man an / als deutscher Mann, / wenn niemand man gehorchen kann.“
Die sarkastischen Verse schrieb Robert Neumann 1946 in seiner Revue
„Schwarzer Jahrmarkt“. – Hätte man ihn damals nach den Chancen für ein vereinigtes
Europa gefragt, er hätte sich an die Stirn getippt und vielleicht einen
weiteren Spottvers geschrieben.

Familientherapeuten rechnen uns vor. Die mittlere Verliebtheits-Phase junger
Paare dauert zwei Jahre. Dann müssen stabilere Gründe her, um eine nachhaltige
Beziehung zu tragen. „Schmetterlinge im Bauch“ sind zunächst hormonales
Glück. Später deuten sie eher auf eine Stoffwechselstörung.

Das „Projekt Europa“ war nie ein Rausch-Erlebnis. Von Anfang an war es eine
Vernunftehe. Die alten Männer, die es gründeten, hatten eine historische Erfahrung.
Und die war sehr teuer bezahlt.

Aber das reichte ihnen nicht, denn Erfahrungen können in Vergessenheit geraten.
Sie suchten nach einem verlässlichen Motor für Zusammenhalt und Entwicklung.
Und fanden ihn.

Er hieß Freude am gegenseitigen Nutzen. Was sich lohnt, gibt man ungern auf.
Wer erfolgreich kaufen und verkaufen will, sehnt sich nach dem größeren
Markt. Sympathie und politisches Zusammengehen kommen später. – Schon
immer waren die Handelsstraßen, die Hellwege und Seidenstraßen, die
Schlagadern der Völkerverständigung.

Europa wurde zum größten Erfolgserlebnis unserer gemeinsamen Geschichte.
Das höchste Ziel, das der Frieden erreichen kann, ist – der Frieden. Die Mitglieder
der wachsenden Familie wohnten unter einem Dach. Die Konflikte uferten
nicht mehr aus. Der blutige Streit am Nachbarzaun war vorbei. Zwar schlugen
im Innern des Hauses noch manchmal die Türen, aber das – so schien es –
waren pubertäre Restbestände.
[…]

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