Rede: Vierteljahresgespräche – Deutsche Welle, 12. September 2012

Bonn, 12. September 2012. 

BAPP – Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik

  • Wir haben die Legitimation der Neugier.
  • Wir wollen genauer wissen, was sich hinter neuen Entwicklungen verbirgt oder ankündigt.
  • Wir sind überzeugt, dass Forschung, Lehre und Praxis im weiten Feld der Gesellschaftswissenschaften zwar verschiedene Perspektiven haben, aber alle dasselbe Phänomen betrachten.

Experten aus Wirtschaft, Medien und Politik leiten im „Tandem“ mit renommierten Wissenschaftlern die Lehrveranstaltungen. Professoren der Universität Bonn und anderer Hochschulen betreuen die Forschungsprojekte und befassen sich im integrierten Think Tank ebenfalls mit konkreten Fragestellungen. Die Ergebnisse entwickeln wir weiter zu praktikablen Lösungen.

Sämtliche Aktivitäten suchen den pragmatischen Zugang und vermeiden die isolierte Betrachtung. Das Entscheidende ereignet sich heute in den Wechselwirkungen von Interessen, Prozessen und Personen. Der Fokus liegt dabei auf den rationalen und irrationalen Motiven, den objektiven und subjektiven Interessen, den Fakten und den Faktoren beruflicher Praxis in den hochenergetischen Kontaktzonen der genannten Felder.

Medien

Eine wirksame Kritik der Gesellschaft und der politischen Realität ist nicht in der privaten Sphäre, sondern nur in der Öffentlichkeit möglich. Erst der Transfer privater Meinungen, Wertungen, Zielbilder in den öffentlichen Raum hinein macht aus dem Privatmenschen den Bürger und setzt ihn in ein Verhältnis zum Staat, auf das er einwirken kann. Dieser Gedanke von Jürgen Habermas bekommt durch das Internet eine neue Brisanz.

Das neue Leitmedium heißt „Internet“. Es ist noch jung wie um 1500 der Buchdruck. Aber schon jetzt kann man ihm eine ähnlich grundstürzende Wirkung prophezeien. Nach Straße und Marktplatz, nach Buch und Zeitung erzeugt es eine dritte Öffentlichkeit, in rasanter Geschwindigkeit und mit dem naiven Charme einer Naturgewalt.

  • Globale Entfernungen werden zur unmittelbaren Nachbarschaft.
  • Der zeitliche Abstand zwischen Ereignis und Wahrnehmung schrumpft gegen Null.
  • Herrschaftswissen wird zur puren Illusion.
  • Menschenmassen ballen und organisieren sich auf Zuruf zu mächtigen Bewegungen.
  • Eine exponentiell anschwellende Informationenflut steht jederzeit und überall zur Verfügung.
  • Das Individuum wird sein eigener Sender und sein eigenes Programm vor einem globalen Publikum.

Uns dämmern inzwischen auch Schattenseiten des neuen Werkzeugs. Wert und Wirkung hängt davon ab, wer es zu welchem Zweck benutzt und bedient.

  • Ungleichzeitige Kulturen und Bewusstseinszustände prallen unvermittelt aufeinander. Das kann Schockzustände und irrationale Reaktionen auslösen.
  • Traditionen und Tabus werden restlos ignoriert, womit auch deren Schutzfunktion entfällt.
  • Verschwörungstheoretiker, Demagogen, und Welterlöser finden ein neues Treibhaus für ihre Fantasie und zugleich einen globalen Lautsprecher.
  • Autoritäre Regime nutzen das Web längst ihrerseits als Sperrfeuer gegen unliebsame Kritiker.

Schlägt Quantität wirklich um in Qualität? Erhöht sich Glaubwürdigkeit, wenn wir in riesigen Datenmengen stöbern? Kann Software Muster und Zusammenhänge erkennen? Sind ethische Standards das Ergebnis von Algorithmen? Ändern sich die Erkenntnisregeln dadurch, dass immer mehr und komplexere Daten handhabbar werden? Werden wir ständig klüger, weil wir nichts mehr vergessen?

Das Internet bietet eine uferlose Menge an Herausforderung und Anregung, aber keinen privaten Schutzraum. Es steigert die Menge der pseudo-persönlichen Kontakte ins Unsinnige, bietet aber keine unkündbaren Beziehungen. Elternhaus und Schule leiden vielfach unter Auflösungsdruck und stehen als Stabilisierungsfaktor nicht mehr zur Verfügung. So wird für gefährdete Jugendliche die Flucht ins All des Internets der Absturz ins Nichts mit schweren Folgen für die soziale Biografie. Oft sind sie unfähig zur Empathie und zu belastbaren Bindungen oder neigen später selbst zu Vorurteil und Gewalt, um die quälende Komplexität ihres Daseins mit einem „Schlag“ zu verringern. Zwar ist das Internet hier nur in den seltensten Fällen ursächlich, es verstärkt aber die vorhandene Disposition und verweigert seine Zuständigkeit.

Das Internet erzeugt eine neue Öffentlichkeit. Zugleich erzeugt es eine neue Anonymität. – Hier liegt eine grundlegende Antinomie, die unsere Zukunft prägen wird. Sie verdient eine genauere Untersuchung, denn sie erscheint mir bei weitem noch nicht klar genug begriffen.

Bürgerbewegungen von Tunesien bis Jemen, von der Wallstreet bis Stuttgart, von Acta bis Attac erweisen das Internet als ein ungewisses Medium der Information, aber als ein wirksames Mittel der Kommunikation und der spontanen Aktion. Es fördert also, was die klassischen Medien früher nur mühsam und langwierig erreichen konnten.

Die klassischen Medien stehen unter einem großen Druck. Wie weit können/müssen sie sich anpassen, ohne sich selbst aufzugeben?

Auch klassische Versuchungen erhöhen ihren Druck. Im Crossover verwischen sich die Konturen. Die Presse kann ihren Auftrag als kritisches Gegenüber der Macht und als behutsamer Erklärer der Welt verweigern. Sie wird zum Erfüllungsgehilfen mächtiger Gruppen.

Das Parlament kann zum Ort leerer Akklamation für die Regierungsmehrheit oder für Entscheidungen werden, die längst in den Hinterzimmern und Ausschüssen getroffen wurden.

Wichtige Themen degenerieren auf beiden Seiten zur Show, wo man nur noch den politischen Gegner strategisch auspunkten oder durch boulevardesken Schaum die Quote steigern will.

Sehr konkret erleben wir das gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die beiden Lenkungsmechanismen der Industriegesellschaft Markt und Staat schaffen durch Selbstermächtigung des Marktes und die Selbstentmachtung der Parlamente ein gefährliches Vakuum.

Parlamente können nicht stärker sein als der Staat, aber sehr wohl schwächer. Nicht ausgefüllte Räume schwinden.

Wir brauchen eine intelligente Dialog-Kultur. Sie macht aus Feinden Gegner und aus Gegnern Partner, die begriffen haben, dass sie einander nötig haben. Sie haben weiterhin Konflikte, aber sie bearbeiten sie so, dass sie auch in Zukunft miteinander auskommen. Das setzt voraus, dass sie die Eigenverantwortlichkeit des Gegenübers wecken und anerkennen. Leider setzt es auch voraus, dass man sich selbst für fehlbar hält.

In der allgemein gestiegenen Unsicherheit ist die Politik nicht mehr bereit, große Projekte auszuformulieren und durchzusetzen. Das wird auch durch die Entwicklung der Parteienlandschaft erschwert. – Vor diesem Hintergrund müssen Unternehmen, Gesellschaftsgruppen und Bewegungen sich selbst erklären und mit möglichst guten Argumenten um Akzeptanz werben.