Rede: Regionale Interessenvernetzung am Beispiel des Ruhrgebietes – Düsseldorf, 15. September 2012

15. September 2012 – Maritim Hotel, Düsseldorf

Meine verehrten Damen und Herren,

vor neun Tagen habe ich genau hier am Düsseldorfer Flughafen gestanden. Dem Initiativkreis Ruhr ging es um Logistik. Die Gemeinsamkeit des Standorts dieses Treffens belegt: Auch in der Logistik sind Rhein und Ruhr untrennbar verbunden.

Wir können uns an den Karnevalsgag erinnern: Ein Rheinländer sagte zum anderen: „Ich bin Organspender. Aber nicht für Westfalen. Meine Leber würde die abstoßen.“ Der Witz funktioniert auch umgekehrt.

Regionale Interessenvernetzung klingt unaufgeregt und rational. Ist es auch. Wir reden nicht von leidenschaftlicher Umarmung und planen keine Liebesheirat. Das erhöht nur die Scheidungsstatistik. Wir flirten. Wenn das misslingt, kommt alles andere ohnehin nicht zustande.

1945 waren es ein paar Europäer leid, in einem ewigen Kriegs- und Krisenherd zu leben. Sie redeten nicht über Grenzen. Es ging um Kohle und Stahl. Langsam wuchs ein gemeinsamer Markt. Die Sache rechnete sich. Das war vor allem eines: nützlich für alle. Als Bonus ergab das die längste Friedensphase unserer Geschichte. Das ist es: Erst ein Netzwerk schaffen – gegenseitig nützlich werden. Lieben kann man sich später.

Intelligentes Neben- und Miteinander. Wie jenes alte Ehepaar: Seit 50 Jahren mustergültig verheiratet. – Alle staunten, und man fragt sie, wie sie das geschafft haben. „Ganz einfach“, sagt der Mann. „Wir haben da ein Ritual. Einmal pro Woche gehen wir in die Altstadt und setzen uns in das Lokal, wo wir uns kennengelernt haben. Wir trinken unseren Lieblingswein und essen unsere Lieblingsspeise. Sie am Dienstag. Ich am Donnerstag.“

Starre Systeme sind anfällig und gefährdet. Geschmack und Ziele schwanken. Neue Ideen attackieren alte.

Dynamische Systeme haben größere Überlebenschancen. „Strukturwandel“ schreckt sie nicht. Das griechische Wort „krisein“ bedeutet „scheiden“, „unterscheiden“, „entscheiden“. Es sind Verjüngungsphasen und Gründerzeiten.

Das Ruhrgebiet war 150 Jahre lang Strukturwandel in Permanenz. Alles geschah „Hals über Kopf“. Idyllisches Agrarland kollidierte mit wuchernden Städten. Kornfelder stießen an Zechen, Hochöfen und Walzwerke. Tageslicht wechselte in Minutenschnelle gegen Grubenlampe. Fremdarbeiter strömten von allen Seiten herein. Eine kleinteilige Gemeindestruktur kontrastierte mit dem Fernweh großer Kapitalgesellschaften. Es war ein Sturz in die Zukunft, aber er weckte und trainierte die Kräfte. Er hinterließ auch Narben.

Bis heute präsentiert die Vergangenheit ihre ungedeckten Wechsel. Die „künftige Generation“ unserer Vorfahren sind wir und erhalten nun die Rechnung. Unsere Probleme waren ihrer Zeit voraus. Wir wissen deshalb, dass man den Wandel schaffen kann.

Uns wundert Jammern und Zetern von Bankern, die ihre Strukturkrise selbst verschuldet haben. Wir haben die Phase des Selbstmitleids hinter uns. Wir haben begriffen: Wenn man im gemeinsamen Europa und in der globalen Welt bestehen will, müssen sich Teilräume vernetzen. Gegen unnötige Konkurrenzkosten kann man kaum anverdienen.

Kooperationserfolge liegen auf der Hand: Zum Beispiel der Initiativkreis Ruhr. Rund 70 Mitgliedsunternehmen vernetzen ihre Interessen. Sie stoßen Projekte an und erkunden ungenutzte Chancen. Sie haben ein Bild von ihrem Revier und wollen, dass es ihm ähnlich wird. Eine gesunde Wertschöpfungskette ist die Voraussetzung für Erfolg.

Moderne Wirtschaft basiert auf dem Mix: Industrieproduktion, Dienstleistungen, Forschung, Entwicklung und Bildung. Sie vollzieht sich in einem Parallelogramm aus Mobilität, Urbanität, Nachhaltigkeit und Kommunikation.

Das Bonner „Haus der Geschichte“ zeigt einen Kurzfilm. Auf einer im Raum schwebenden Platte stehen Menschen. Wenn einer von ihnen seinen Standort verlagert, beginnt die Platte zu kippen, alle anderen müssen durch eigene Bewegung dagegenhalten. Jeder ist auf den anderen angewiesen. Jeder ist zugleich Ursache und Wirkung. Nur ein Zusammenspiel verhindert den Zusammenbruch des Systems. Eine eindrucksvolle Metapher.

Der Energiewandel wird nicht von der Politik gemacht. Die kann ihn nur fördern oder hemmen. Er entsteht durch technologischen Fortschritt und die wachsende Knappheit an fossilen Brennstoffen. Er gelingt nicht mit einer großtechnischen Entscheidungsschlacht, sondern nur im intelligenten Zusammenwirken kleiner und großer Systeme.

Das Klischee „David gegen Goliath“, Schläue gegen Kraft, ist antiquiert. Heute würde man beiden sagen: Vertragt euch und gebt euch die Hand!

Die Metropole der Zukunft wächst nach innen. Vernetzung verlässt Schießscharten und fördert eine Kultur des Dialogs. Das ist nicht Romantik. Das ist Egoismus. Man will seinen Einsatz mit Gewinn zurück: durch attraktivere Standorte, mehr Beschäftigung und mehr Umsatz. Aber man will es in einem sinnvollen Gesamtsystem.

Es gibt wenige Erfolge, denen nicht die Vernetzung von Interessen vorausging. Das klassische Muster war Wettbewerb statt Kooperation. Wir glauben an Wettbewerb durch Kooperation. Kürzlich hatte der Initiativkreis zu einem solchen Wettbewerb eingeladen. Es ging um möglichst breite und intelligente Zusammenarbeit. 126 Bewerbungen lagen auf dem Tisch. Kommunen, Bürgergruppen, Unternehmen und Forschungseinrichtungen hatten pfiffige Ideen, wie man sich gegen ungelöste Probleme aufgrund gemeinsamer Interessen verbünden kann.

Schon vor der Preisvergabe stand fest: Alle hatten gewonnen. Das Überwinden alter Denkblockaden führte zur Entdeckung „erneuerbarer Energien“ in den Köpfen. Die Zukunft gehört nicht dem höchsten Kirchturm, sondern dem größten Weitblick.

Die Vernetzung von Interessen bedeutet keineswegs die Aufgabe der eigenen Identität. Im Gegenteil. Sie erst macht die „besonderen Kennzeichen“ sichtbar.

Der Ruhri hat eine Spezialbegabung. Er hält nicht viel von Gleichschritt. Es fällt ihm aber erstaunlich leicht, nützliche Bündnisse einzugehen.

Wir begrüßen es, wenn sich in der Rheinschiene mehr Eigenes formiert. Man hat einen Gesprächspartner. Die Politik ist kaum noch bereit, sich große Wirtschaftsprojekte zu eigen zu machen. Im Kanzleramt eine Flasche Rotwein zu trinken und dann zu glauben, die Sache läuft von selbst, das ist vorbei. Unternehmen müssen für ihre Projekte und Ziele selber werben. Frühzeitige Einbeziehung aller relevanten Kräfte und Gruppen ist dabei wichtig.

Das haben sie spät entdeckt, und es klang zunächst wie eine „bittere Pille“. Inzwischen wissen viele: Die Vernetzung mit den Interessen der Gesellschaft ist nutzbringende Arznei.

Meine Damen und Herren,

Regionale Vernetzung von Interessen. Wie jedes ergiebige Thema, explodiert es einem unter den Händen. – Da kommt man nicht ans Ende. Man hört einfach auf.

Ich fand gestern einen Vierzeiler, ein charmanter Endpunkt:

Die kleine Tochter vor uns steht
und sagt ganz ohne Spaß:
„Ich spreche jetzt mein Nachtgebet.
Braucht ihr was?“

Ich danke Ihnen.