„Shitstorms“ und Treibjagden – Handelsblatt, 23. April 2012
Chance für mehr Demokratie und Treibhaus für Demagogen: Für Bodo Hombach ist das Netz ein Paradox. Es steht für die Idee einer undurchdringlichen Durchlässigkeit.
Internet. Facebook, Google, Twitter. Das große Irgendwo. Alles steht auf Klick zur Verfügung. Von der klügsten Bemerkung bis zur Latrinenparole: Alles ist wie in Stein gemeißelt. Weltweit. Für immer.
Das „Welt-Netz“ ist da, und allmählich dämmert uns: Es ist ein Quantensprung der kulturellen Evolution, vergleichbar mit der Erfindung der Schrift oder des Buchdrucks. Es verändert nicht den Menschen, aber fast sämtliche Parameter seiner alltäglichen Existenz.
Das wurde lange ignoriert. Öffentliches Nachdenken wurde als exotisch belächelt. Kirchen, Schulen, Gewerkschaften, Parteien waren sprachlos und eingeschüchtert. Eine neue Partei war nötig, um wichtige Fragen aufzuwerfen. Noch stammelt sie Antworten, aber schon erscheinen alle anderen als antiquiert.
Wir brauchen die große Debatte der Gesellschaft über Chancen und Gefahren – nicht der neuen Technik oder des neuen Mediums, sondern der neuen Situation, in der wir leben.
Das Netz respektiert keine eingeübten Gewissheiten. Globale Ferne wird zur unmittelbaren Nachbarschaft. Ungleichzeitige Kulturen prallen hart aufeinander. Der zeitliche Abstand zwischen Ereignis und Wahrnehmung schrumpft gegen null. Herrschaftswissen wird zur puren Illusion. Menschenmassen ballen und organisieren sich auf Zuruf zu mächtigen Bewegungen. Eine exponentiell anschwellende Informationsflut. Privater und öffentlicher Raum sind kaum zu unterscheiden.
Das Netz erfüllt uralte Weltbürger-Träume. Hierarchien werden flacher, Entscheidungen transparenter, Teilhabe wird möglicher. Eingeübte Verhaltensmuster und Rollenbilder weichen auf.
Das ist nicht die Lösung der Probleme, aber es vermehrt die Alternativen. Man hat die Wahl, aber man muss auch wählen. Entgrenzung bedeutet Asymmetrie: zwischen Entwicklern und Usern, Großrechnern und Hackern, Weltenbummlern und Schrebergärtnern, eleganten Bildschirmflaneuren und widerborstigen Erbsenzählern. Schicke einen Spießer auf Weltreise, und er kommt als braun gebrannter Spießer zurück.
„Neue Anonymität ist demokratische Chance“
Es gibt die erste Öffentlichkeit der Straßen und Plätze. Man spielt seine Rolle, zeigt sich und achtet auf Umgangsformen. Es gibt die zweite Öffentlichkeit von Buch, Zeitung, Theater und Rundfunk. Sie erweitert Primärerfahrung durch Sekundärerfahrungen. Die Umgangsformen korrodieren. Ich kann mich im heimischen Wohnzimmer vor die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten fläzen und in der Nase bohren.
Das Netz ist die dritte Öffentlichkeit: kein Fenster in die Welt, sondern die Welt in meinem Zimmer, kein Zustand, sondern ein fortdauerndes Ereignis. Es erzeugt herrschaftsfreie Öffentlichkeit mit dem naiven Charme einer Naturgewalt. Der Protest der Cyber-Generation gegen jede Domestizierung ist nicht Jugendrevolte oder Halbstarken-Pose. Sie weigert sich – und sei es unbewusst –, die neue Zeit zu verschütten, bevor sie ihre Eigenschaften überhaupt entwickeln konnte.
Die neue Anonymität ist demokratische Chance. Sie schützt Oppositionelle vor Unterdrückern, verleiht selbst Ängstlichen und Verzagten eine Stimme.
Das Netz ist aber auch ein Treibhaus für Demagogen und manische Welterlöser. Es erzeugt auch vernichtende „Shitstorms“ und Treibjagden. Autoritäre Regime nutzen es schon als Sperrfeuer gegen die Opposition. Profiteure verglasen den User zum fremdgesteuerten Objekt. Sie alle haben hier ein ideales Aufmarsch- und Rückzugsgebiet. Ein Blatt versteckt sich am besten im Wald.
Auch Google, Yahoo und Co. brauchen die neue Anonymität der Massen, weil sie die Massen brauchen. Klickzahlen sind Geld. Aber schlägt Quantität um in Qualität? Erhöht sich Glaubwürdigkeit proportional zur Datenmenge? Sind ethische Standards das Ergebnis eines Algorithmus? Werden wir ständig klüger, nur weil das Netz nichts mehr vergisst?
Ergiebige, drängende Fragen und erregende Signale. Dämonisierung ist kontraproduktiv, Sakralisierung auch. Die alte Medienpolitik muss endlich die neuen Herausforderungen aufgreifen und begreifen. Die Technikentwicklung wartet ohnehin nicht auf Debatten und Beschlüsse. Noch debattieren wir wie der Professor mit seiner Haushälterin. „Sie haben Ihren Hut falsch herum auf!“ sagt sie. „Wieso?“ fragt er. „Sie wissen doch noch gar nicht, wohin ich gehe.“
Quelle: Handelsblatt