„Europas Ende – Europas Anfang? Die EU zwischen Krise und Aufbruch“ – BAPP, 8. Mai 2017

„Europas Ende – Europas Anfang? Die EU zwischen Krise und Aufbruch“

Grußwort von Prof. Bodo Hombach

Bonner Universitätsforum, 8. Mai 2017

Liebe wertgeschätzte Gäste,
sehr verehrte Damen und Herren,

diese Akademie ist auf der Höhe der Zeit. Höher als heute geht es nicht. Ich begrüße – auch in Ihrem Namen – den obersten Repräsentanten der Europäischen Union, Herrn Jean-Claude Juncker! Seinem Kalender hätte vieles einfallen können, das zu verhindern. Er kommt aus Berlin. Unser neuer Außenminister hat sein Buch: „Neuvermessung“ vorgelegt. Ich durfte vorab lesen und besprechen. Ein deutscher Spitzendiplomat lässt sich zu Beginn seiner neuen Aufgabe in die Karten gucken. Für einen einmaligen Freundschaftspreis können Sie sich nachher Buch und Besprechung mitnehmen.

„Europa in der Krise“ – im „Westen nichts Neues. Schon der Gründungsmythos trägt es in sich. Der Göttervater verkleidete sich als Stier. Er tat sanft und harmlos. Er entführt die Begehrte. Vorspiegelung falscher Tatsachen. Gewaltsame Entführung. Sex mit Abhängigen. Das Strafmaß wäre beträchtlich. Zudem Verletzung des Urheberrechts: Der Übeltäter gibt dem Tatort den Namen der Geraubten: „Europa“.

Gewaltakte sind biometrische Kennzeichen dieses Kontinents. Man verfolgte Andersdenkende, unterdrückte Minderheiten, raubte das eigene Volk und Nachbarn aus. Man starrte auf Landkarten und dachte in Aufmarschplänen. Am liebsten verschob man Grenzen. Das eskaliert – nahe an finaler Selbstvernichtung.

Auf den Trümmerhaufen saßen ein paar Männer. Deren sensationelle Idee: Man kann sich gegenseitig massakrieren. Man kann es aber auch lassen. Der geschundene Kontinent bekam die Chance zur besseren und intelligenteren Daseinsweise.

Die Union ist Methode zum Zweck gedeihlichen Auskommens im Innern. Sie ist Modell für „Wandel durch Annäherung“ nach außen. Das Jahr 1989 war vorläufiger Höhepunkt. Aggressives Ost-West-Schema schien überwunden. – Friedlicher Ausgleich der Interessen zu gegenseitigem Nutzen. Restprobleme schienen durch Friedensdividende finanzierbar.

„MS Europa“: Traumschiff für alle, die sich „noch“ kein Ticket leisten konnten. Wer an Bord die Schiffsordnung las, summte: „Hier bin ich Mensch. Hier darf ich’s sein“. Wissenschaftler diskutierten „das Ende der Geschichte“.

Dann bringen Hass und Wahn in New York Riesen-Türme zum Einsturz. Das erzeugte Trauma führt zu Reflexen. Afghanistan. Irak. Libyen. Das Kasino-Wallstreet und Spielbanken anderswo bringen die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds. Beim Damoklesschwert Finanz-und Schuldenkrise ängstigt der dünne Faden. Korrupte Regime in Afrika, Nahost, Lateinamerika provozieren Bürgerkriege und Massenflucht.

Korruptionsskandale und Terror zerrütten Vertrauen in die Weisheit der Entscheidungsträger und Institutionen. Einige spekulieren auf Untergang der „MS Europa“. Soros sagte in Davos den Kollaps voraus. Dessen Uni schützt die EU vor Orban.

Gestern haben kluge Franzosen den Untergangs-Propheten und Leerverkäufern die Börse verhagelt. Und das nicht zu knapp! Sie haben sich und Europa bessere Chancen eröffnet. Auch im deutschen Norden hat der freilaufende Wähler voreiligen Modelleisenbahnern, Meinungsmachern – und Forschern den bösen Finger gezeigt.

An Bord zanken üblicherweise 27 Kapitäne um den Kurs. Gegen die, die sich ausbooten, war man schnell einig.

Schiffbrüchige ferner Katastrophen betteln um Hilfe. Die Bordkapelle und die Animateure bemühen sich. Einige fühlen sich gedemütigt, andere finden Gefallen am „Beleidigtsein“. Neuartige links und rechts auslegende Volkstribune wollen Meutereien anzetteln. Robespierre rief als Vorsitzender des Wohlfahrtsausschusses: „Heute ist der Tag, wo das Volk seine Macht zurückbekommen hat“. (So tönte es auch aus Washington.) Ein Revoluzzer hat keine Fragen – nur Antworten. Man müsse das Schiff von innen anbohren, um es „denen da oben“ zu zeigen. „Klar Schiff“ käme später. Es kreisen Haifische…

Der Philosoph Jürgen Wiebicke schreibt: „Wenige mit harter Gesinnung erleben gerade, dass sie eine Mehrheit in Schockstarre versetzen können. Es reicht anscheinend, permanent Angst zu füttern. Wenige bewirken viel. Das gilt im Guten wie im Schlechten“.

Der Kölner Stadt-Anzeiger nannte David Cameron den „größten Volltrottel der neueren Geschichte“. Uns fallen auch Andere ein.

Es gibt keinen plombierten Vorrat an Frieden, Sicherheit, Wohlergehen und Zuversicht in die Lösbarkeit aktueller und kommender Probleme. Wir eignen uns nicht als Apokalyptiker. Die Akademie weigert sich stur, in allgemeines Lamento einzustimmen. Wir glauben: Wer sich vor Problemen fürchtet, hat keine verdient. Wir wissen: Wer keine hat, ist tot.

Wir bräuchten ein Moratorium für steile Thesen. Wir wollen verstehen, warum in zu vielen Demokratien chauvinistische Politik an Zustimmung gewinnen konnte.

  • Das sogenannte Establishment war denkfaul und argumentationsarm. „Alternativlos“ überzeugt nicht.
  • Da ist die Arroganz der Macht. Völker wurden ins Abseits gestellt oder als Regionalmacht herabgesetzt.
    NATO und EU hätten sich weniger als Sieger gebärden können. Der Friedensnobelpreisträger im Oval Office hat Polarisierung und Spaltung nicht verringert. Sein Nachfolger ist Pilzkörper auf einem Mycel, das längst im Verborgenen wucherte. Über Lebensrealitäten Vieler wurde hinweggeredet und -gesendet.
  • Probleme im Nahen Osten sind auch Derivat nachwirkender Kolonialpolitik. Nach dem Motto: Eigentlich sind das ja schöne Länder, aber wie kommt unser Öl unter deren Sand?

Wenn wir gelassener werden, erkennen wir: Es formieren sich neue Bewegungen. Die bekennen sich lautstark zum geeinten Europa. Wahlbeteiligung steigt, Parteien gewinnen Mitglieder, neues politisches Interesse an mehr Hintergrund und Zusammenhang überrascht sogar Journalisten.

Denken folgt auf Schwierigkeiten und geht dem Handeln voraus. Wir haben eine Menge anregender Schwierigkeiten. Mehr als unsere Apparate verarbeiten können. Engagement wurde nicht geringer, sondern verordnete Parteilichkeit. Nur wenige – die mit dem flackernden Blick – glauben noch, eine Sache sei richtig, weil ein Parteitag sie beschlossen hat.

Sie merken: Ich leite über zur Rede eines großartigen und erfolgreichen Pragmatikers mit frustrationsfestem Wertegerüst. Er hat jüngst ein „Weißbuch zur Zukunft der EU“ vorgelegt. Der kluge Herausgeber des Handelsblattes Gabor Steingart wird anschließend nachfragen.

Wir sind entschlossen, diesen Saal klüger zu verlassen, als wir ihn betreten haben. Präsident Juncker bürgt für diese Gewissheit.

Dafür vorauseilenden Dank.