„Auf dem rechten Auge blind?“ – BAPP, 19. November 2015

Sehr verehrte Damen und Herren,
lieber Herr Aust,

der kriegerische Terror islamischer Banden zielt auch in unsere Köpfe. Mittelalterliche archaische Brutalität ist dazu Mittel. Der Zweck ist, die einen durch panische Angst zu lähmen – die anderen zur Weißglut zu reizen:
• Die sollen sich und ihre zivilisatorischen Prinzipien vergessen.
• Die sollen der Sucht nach Beleidigtsein und der Umwandlung von Minderwertigkeitsgefühlen in Allmachtsfantasien notwendige Nahrung liefern.
• Die sollen die legitimatorische Basis für die vermeintliche Notwendigkeit von Selbstverteidigung und der Pflicht zur Rache legen.
• Die sollen das Gebräu zur Gewinnung neuer Terroristen anrühren.

Terror wirkt. Die Propaganda der Tat bringt die Medien bis zur Hyperventilation zum Aufschäumen. Wuchtige Worte wie Kriegserklärung, Krieg und Bündnisfall wabbern mit vielfältigem Echo umher.

Hat unser heutiges Thema da seinen Platz? Stimmen Proportionen und Aktualität? Ich bin davon überzeugt, es gibt sogar Interdependenzen.
Gesetzesignoranten und Gesetzesbrecher, Intolerante, Radikale, Gewalttäter und Terroristen brauchen und bedingen einander. Sie stacheln sich auf und an. Sie liefern sich Zulauf und Themen für ihr eigenes Selbstverständnis. Sie brauchen die Gewalt der anderen für ihre Gewalttätigkeit.

Die neuen Medien machen es auch für Terroristen technisch und formal viel einfacher und grenzüberschreitender. Wer Terror praktizieren will, braucht ein Umfeld. Ein Umfeld aus Stimmungen und Gefühlen, aber auch ein solches, das real unterstützt, beherbergt, Logistik und Waffen zuliefert. Ohne Unterstützer und Umfeld funktioniert das nicht. Die Ballungen solcher potentiellen Helferszenen sind bekannt, und wer wirksam gegen Terrorismus vorgehen will, darf die Helferszene nicht aus dem Auge lassen.
Auch das sind wichtige Überschneidungen und Lehren zu unserem heutigen Thema.

Wenn jemand zu diesen Themen sprechen kann, dann sind Sie das, lieber Herr Aust, als ausgewiesener Fachmann mit kritischer Panorama-Optik für Fallsucht in Richtung Extremismus. Ich nenne drei Titel Ihres journalistischen Wirkens: Der Baader Meinhof Komplex. Die Digitale Diktatur. Und Heimatschutz –
Der Staat und die Mordserie des NSU.

Sind wir in einem Umfeld, das überwunden geglaubte Affekte wieder hoffähig macht?

Fanatismus von Links hatte seit Weimar in Deutschland keine Massenbasis. An den linken Rand abdriftende 68er blieben weitgehend unter sich. Schon ihr Vokabular war nicht mehrheitsfähig.

Die Bewegungen zerfielen in kleine und kleinste Konventikel. Die haben sich gegenseitig beschäftigt und in Schach gehalten. Einzelne hinderte das nicht, in den Untergrund abzutauchen und Bomben zu basteln. Sie taten es auch, weil sie mit ihren Parolen nicht landen konnten, weder bei den Arbeitern noch im Bürgertum.

Anders der Fanatismus von Rechts. Vor dem Hintergrund von Inflation, Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit konnte er mit etwas demagogischem Aufwand eine Massenbewegung erzeugen. Autoritäre Strukturen waren in sämtlichen Groß- und Kleingruppen der Gesellschaft verbreitet. Obrigkeitsdenken und ein Gebräu aus Rassismus, Ressentiments und Vorurteilen aller Art arbeiteten zu. Wie bei einer chemisch „gesättigten Lösung“ brauchte es Anlässe, um „auszukristallisieren“. Die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten war eine „Machtübergabe“.
Wir glauben, das sei blutiger Schnee von gestern. Die Bundesrepublik hat die freiheitlichste Verfassung ihrer Geschichte und funktionierende Institutionen. Sie ist Motor der europäischen Einigung. Sie hat entdeckt, dass die Erde eine Kugel ist. Sie scheint unwiderruflich gefeit gegen Fremdenhass, Antiparlamentarismus, nationalistische Überheblichkeit.
Wir beobachten eine Korrosion dieser politischen Kultur. Pegida und andere finden ihre Zustimmer. In den Unsozialen Medien tummeln sich Hassbotschaften. Es brennen zahlreiche Flüchtlingsheime.

Der NSU-Prozess und seine Vorgeschichte scheinen in dieses Bild zu passen. Sein beunruhigendes Thema ist nicht die Anzahl der Morde. Es ist die Frage: Wie war es möglich? Wieso konnte ein Mörder-Trio jahrelang eine solche Blutspur durch das Land legen, ohne dass Polizei und Staatsanwaltschaft einen Zusammenhang erkannten? Wie erklärt es sich, dass der Migrationshintergrund der Opfer sie vorschnell zu Mittätern machte?

Es wird oft unterstellt: Die Ermittler und Justiz seien hier auf dem rechten Augen blind gewesen. Auf dem Auge, das aufgrund unserer Geschichte besonders hellsichtig sein müsste.
Die ewige Wiederkehr von fanatischer Verirrung und Gewaltexzessen scheint als historische Erfahrung noch zu wenig verarbeitet. Es gibt ein Lernen aus der Geschichte. Es braucht jedoch Umstände, unter denen es wirksam wird.

Ich nenne zwei Aspekte:
• Zunächst ist es die konkrete und persönliche Erinnerung der Opfer. Sie schützt eine Weile durch das „Nie wieder!“, durch reflexhaften Widerstand gegen alles, was in die Katastrophe geführt hat. Diese „Immunisierung“ ist an Personen gebunden. Sie ist bei Opfern stärker entwickelt als bei Tätern.

Sie schwindet mit dem Aussterben der Betroffenen. Sie hat eine biologische Halbwertszeit. Die konkrete Erinnerung verwandelt sich in die abstrakte der Schulbücher.

• Der zweite Bereich historischen Lernens manifestiert sich in Verfassungen, Gesetzen, Institutionen und Traditionen. Sie sind das Langzeitgedächtnis der Gesellschaft. Das überdauert den Wechsel der Generation. Auch sie haben eine Halbwertszeit. Gute Gesetze sind das eine. Wenn sie nicht immer wieder neu mit Leben erfüllt werden, gerinnen sie zum abstrakten Ritual. Es gibt Gruppen und Einzelne, die ein Interesse haben, die lästigen Fortschritte wieder loszuwerden.
Vielleicht übertreibe ich in brennender Sorge. Aber ich möchte mich lieber aus Sorge irren als mit ahnungsloser Blauäugigkeit Recht behalten.
Die bei unserem grundlegend wichtigen Thema gestellte Systemfrage geht nicht nur uns Deutsche an. Sie hat einen enormen internationalen Impact. Es gibt grenzüberschreitendes Interesse am laufenden Verfahren.

Deutschland unterstellt man eigentlich eine beispielhafte Leistung bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit. Wenn es plötzlich verdächtig wäre, einem Wiederaufleben rechtsextremer Gewalt nicht konsequent genug entgegenzutreten, würden alte Sorgen erwachen. Das Zusammenleben in Europa würde noch ungemütlicher als es jetzt ist.
In den Kanon rechtsextremer Kreise gehört der Kampf gegen Internationalismus. Man fordert Segregation statt Integration. Die europäische Einigung hatte aber nicht nur den Zweck, zwischenstaatliche Konflikte und Erbfeindschaften durch Handel und Wandel abzubauen. Es ging nicht nur um den Schutz gegen die anderen. Es ging auch um den Schutz der Völker vor sich selbst. Ein Zerfall der europäischen Einigung würde zum Rückfall in den Tribalsimus (Stammeszugehörigkeit) der Vergangenheit. – Vielleicht sind wir Deutschen gegen vieles gefeit, wir sind es nur bedingt gegen uns selbst.

Ich bin sicher: In zwei Stunden werden wir klüger auseinandergehen als wir gekommen sind. – Auch dafür vorauseilenden Dank.

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