„Sozialdemokratie wohin? Einmischung in innere Angelegenheiten“ – Handelsblatt, 30. Mai 2014

Es gibt mancherlei Wege, die Welt nicht mehr zu verstehen. Man spielt im falschen Stück oder vor der falschen Kulisse. Man fällt aus der Zeit oder ist ihr voraus. Vielleicht ist man aktuell auch Sozialdemokrat und hat das langsam wachsende Gefühl, sogar das Richtige irgendwie falsch zu vertreten oder gar zu machen und abgefragte Wählerwanderungen nicht wirklich zu verstehen.

Untätigkeit ist nicht das Problem. Man hat die Bundestagswahl verloren, sitzt aber Dank eines klug agierenden Vorsitzenden breit auf der Regierungsbank. Als Vizekanzler rackert Sigmar Gabriel sich ab, so dass ihn mancher schon für den wahren Entscheider halten möchte. Man erkämpft in Brüssel und anderswo nützliche Kompromisse. Man ringt mit Rentenreform und Mindestlohn um etwas mehr soziale Gerechtigkeit. Es gelingen sogar zarte Versuche, Raubritter der Finanzbranche an die Leine zu legen. Dann versucht ein erfahrener sozialdemokratischer Außenminister auch noch im kräftezehrenden Dauerlauf, Brandherde und Glutnester in Syrien, in der Ukraine und in Afrika zu deckeln. – Eigentlich genug und mehr als nötig für etwas Applaus und ein paar Fleißkärtchen. Stattdessen steht man scheinbar unverrückbar bei Meinungsumfragen unter der 30-Prozent-Schwelle. Auch das in der SPD aus gutem Grund umjubelte Europawahl-Ergebnis schaffte diese Hürde nicht. Im Ruhrgebiets-Mülheim titelte die örtliche Zeitung nach der gleichzeitigen Kommunalwahl „SPD rätselt: Wo bleiben unsere Wähler?“ Es wird ein historisches Tief diagnostiziert. Dort nähert sich die Partei aus einer ursprünglichen Hegemonialposition kommend von oben der 30-ProzentSchwelle.

Da ist die Versuchung groß, die Gründe überall zu suchen, nur nicht bei sich selbst: Der Schlagschatten der Kanzlerin lässt wenig Platz an der Sonne. Miss-erfolge prallen von ihr ab. Ihr Allzeithoch wurzelt im Vegetativum ihrer Gefolgschaft. Da kann man erst einmal wenig machen.

Sie ist die Schutzmantelmadonna nicht eines Programms, sondern eines politischen Milieus. Dieses könnte in Abwandlung eines alten Marienliedes singen: „Angela breit den Mantel aus, / mach Schild und Schirm für uns daraus. / Lass uns darunter sicher stehn, / bis alle Stürm vorübergehn. / Patronin voller Güte / uns alle Zeit behüte.“

Melancholisch begabte Sozialdemokraten zucken die Schultern. Nicht wenige fürchten, sie könnte sich sogar die Erfolge der SPD ans eigene Revers heften. Sie suchen in der Koalition krampfhaft nach Profil, sogar Konflikten. Dabei könnte man es als konstruktive Regierungspartei dieser Kanzlerin leicht er-kennbar ermöglichen, ihrem eigenen nicht unbedeutenden rechten Rand zu ignorieren. So würde man komfortabel lernen lassen, zu welch vernünftigem Regieren Sozialdemokraten in der Lage sind.

Es fehlt nach Innen und Außen nicht an epochalen Themen, die einer mitreißenden Gesellschaftsdebatte und einer ausgeschlafenen Partei würdig wären. Es fehlt auch nicht an Lebenszeichen faktischer Politik, die bis tief ins bürgerliche Lager Zustimmung finden. Diese kontrastiert jedoch mit einer diffusen Selbstdarstellung. Ein geheimnisvoller Gemütszustand erlaubt offenbar kein Bekenntnis zu den eigenen historischen Erfolgen und neuen Zielen. Man will zwar die Mitte und hat für die potenzielle Bestseller im politischen Sortiment, aber man traut sich zu selten, es dieser großen Kundschaft deutlich und werbend zu sagen. Dabei sind die Mitten der großen Parteien einander näher als ihren eigenen Flügeln. Klar ist: Wer die Mitte will, muss es der auch sagen! Er muss dort vermittelbare Gesichter und Sprache bieten. Die aktuellen Inhalte der Sozialdemokratie sind es durchaus. Aber schon die schüchterne Andeutung, man solle die Leute doch dort abholen, wo sie sind, erntet Skepsis und Kritik aus dem eigenen Lager. Es gibt halt noch viele, die eine Anti-Hartz IV-Demo für eine Arbeiterdemo halten. Sie suchen den Schlüssel nicht dort, wo man ihn ver-loren hat, sondern unter der Straßenlaterne, weil es dort auch durch die Medienscheinwerfer heller ist. – Wenn aber das Selbstverständliche heikel wird, sorgt der Misserfolg für sich selbst.

Ich erinnere mich: Nach der Godesberger Öffnung wurde einer ganzen Generation durch sozialdemokratische Bildungspolitik der Aufstieg möglich. Wir wurden geradezu zu unserem Glück gedrängt. Kaum war der Aufstieg vieler geschafft, erschrak manch braver Sozialdemokrat vor den Ergebnissen. Sie hatten es schwer, mit ihren eigenen Fortschritten Schritt zu halten. Dabei könnte man von einer ganzen Generation das Wissen, woher sie kommt, einfordern.

Gleiches gilt für eine ganze Menge gesellschaftlicher und sozialer Veränderungen. Betriebsräte, die der Belegschaft Gutes tun, indem sie es nicht gegen das Unternehmen erkämpfen, sondern es zusammen mit ihm tatsächlich erreichen, sind leider weniger populär als solche, die sich mit erhobener Faust präsentieren.

Die Empfänger spielen mit – in einer ironischen Doppelrolle. Sie nicken den Funktionären theatralisch zu, sind aber im Subtext damit zufrieden, Nutznießer zu sein. Kein 63jähriger wird auf die abschlagsfreie Rente verzichten, auch wenn er sie im nächsten Fragebogen für systemgefährdend hält. Die „Menschheit“ eignet sich für hochtönende Parteiprogramme. Die „Leute“ lassen Fünfe gerade sein. Sie bekennen sich öffentlich zum Aberglauben, haben aber nichts gegen ein 13. Monatsgehalt. In argumentations- und überzeugungsarmer Zeit werden die zwei Seelen in einer Brust zunehmend gleich stark.

Die Bundeskanzlerin hat auch das erkannt und wird aus diesem Grund so akzeptiert. Sie erscheint wie aus unser aller Leben gegriffen. Sie macht Fehler, aber „du meine Güte“, wir machen alle mal Fehler. Sie beherrscht die Strategie der asymmetrischen Mobilisierung. Sie greift sich gute Ideen, obwohl die Opposition deren Urheber ist, und sorgt ansonsten dafür, dass die Schwelle, sie zu mögen, möglichst niedrig ist. Ihr Pragmatismus entwaffnet. Gelassen schaut sie zu, wie sich Intellektuelle an ihr abarbeiten und ihr ein chronisches Theoriedefizit bescheinigen. Aber niemand kann behaupten, sie hätte sich vom Volk entfremdet und gebärde sich elitär. Auch steht sie nicht im Verdacht, korrumpierbar zu sein. Ihr Verhalten, das bloggende Pitbulls zur Weißglut treibt, ist nicht Unentschlossenheit. Es ist das geduldige Abwarten des Reifepunkts. Sie sagt das künftige Wetter voraus, aber erst nach einem Blick auf das Barometer. Mao Tse-tung ist – weiß Gott – kein Vorbild, aber er schrieb in seinem roten Büchlein: „Der kluge Guerilla beginnt die Schlacht erst dann, wenn er weiß, dass er sie gewinnt.“

Was kann die SPD dagegenhalten? Gibt es bei ihr noch den Politiker, der dem Volk aufs Maul schaut, nicht um ihm dann nach dem Munde zu reden, aber um seinen Hoffnungen und Ängsten gewachsen zu sein? Mit lupenreiner Gesinnung ist es nicht getan. Rückgrat ist gut und wichtig, aber es braucht eine bewegliche Wirbelsäule. Der Gebrauchsmusterschutz für „links“ ist abgelaufen. Frauenemanzipation und Friedensbewegung und auch die Ökologiedebatte haben alte Marschlieder längst zur „Sinfonie der Tausend“ gemacht. Wer sich heute noch links von dieser „Mitte“ absetzen will, steht automatisch am Rand.

In Frankreich hat man es versucht. Man hat die Gesellschaft polarisiert und zerrüttet und kriegt sie nun nicht mehr zusammen. Es reicht nicht, den Reichen zu nehmen, wenn es nicht bei den Armen ankommt. Die alte Erkenntnis, dass Politik nur dann Denkblockaden aufhebt und divergierende Interessen zusammen-führt, wenn sie nicht nur den Protest, sondern auch Konsens organisiert, scheint schwerzufallen.

Die Sozialdemokratie kann dem nur entgegentreten, wenn sie kontinuierlich von sich selbst in der Vorstellung der Leute ein klares Bild entwirft, und zwar eines, das deren Hoffnung nicht unähnlich ist. Die gleicht dem sozialdemokratischen Gesellschaftsentwurf auf erstaunliche Weise. Wer dem Volk früh genug zuhört, braucht dessen Referendum nicht zu fürchten. Gesucht wird ein Profil, wie es nach jeder Wahl händeringend gefordert wird, aber Vorsicht! – eines der Öffnung, nicht der Verengung.

Die, die Sozialpolitik brauchen und die, die sie nicht brauchen, aber wollen, sind viele. Die, die einsehen, dass soziale Sicherheit und Freiheit einander bedingen, sind noch mehr. Dass Ökonomie und Ökologie zusammenhängen, ist gelernt. Von Politikern wird versöhnen statt spalten erwartet. Aus alten Ideologie-Irrwegen und Glaubenskriegen ist man geläutert hervorgegangen. Aktuell ha-ben sich die deutschen Wähler angesichts der noch längst nicht behobenen Schulden-, Finanz- und Eurokrise, angesichts explosiver Jugendarbeitslosigkeit in den Südstaaten und erst recht nicht angesichts neuer Grenzgefahren im Os-ten mit Gurkenkrümmung und Duschköpfen bei der Europawahl nicht dumm-schwätzen lassen. Sie wollen mit ihren Sorgen ernster genommen werden als es die Populisten tun. Sie suchen nach jemandem, der die Arme ausbreitet und sie empfängt, nicht um sie in Schlaf zu wiegen, sondern um mit ihnen und über sie zu wachen. Sie wollen den weiten Horizont und nicht den nörgelnden Standpunkt.
Sigmar Gabriel ist erkennbar bereit, und er sagt es den Genossen: Man muss die Ohren aufmachen und zu den Leuten gehen, wo die Zuhause sind. Das er-fordert Sprachfähigkeit in alle Richtungen. Mit dem Lautsprecher des eifernden Sozialisten kann man sich bürgerlichen Leuten kaum erklären. Die haben die Entartungen des realen Sozialismus noch lange nicht vergessen. Die kennen ihre Lebenswirklichkeit, fühlen sich veräppelt und halten sich die Ohren zu.

Eine große Partei wie die Sozialdemokratie darf nicht Mitte und Mehrheit wollen, aber auf anschwellende Ränder starren.
Da, wo andere ihre Einschätzungen und Entscheidungen als „alternativlos“ gebärden, muss eine moderne Sozialdemokratie nicht die bessere Alternative sein, sondern mehr Alternativen haben. Wo der politische Gegner mit Trost und Beschwichtigung arbeitet, sollte sie auf Ehrlichkeit und Offenheit setzen. Wo Reformen und Experimente nicht mehr angepackt werden, weil sie auch scheitern können, stünde ihr ein entschlossenes „Jetzt erst recht!“ gut zu Gesicht. Verlorenes Vertrauen gewinnt man zurück, wenn man mehr will als Vertrauen.

Mir kommt einer jener bekannten „Inselwitze“ in den Sinn: Der Schiffbrüchige sitzt mager und hoffnungslos am Strand und starrt in die Weite des Ozeans. Würde er nur einmal aufstehen, sich umdrehen und über den Rand des Hügels hinter sich blicken, er sähe dort das pralle Leben mit Hotels, Imbissbuden und Bikinimädchen.

Der SPD nützte ein weniger schüchterner Blick auf ihre eigene Lebenswirklichkeit. Sie hat eine größere Plattform und erst recht mehr Optionen als sie sich eingestehen will. Wer diese enger macht, erntet am Ende die Harmonie der Einsamkeit. Zwar bleibt er auch dann innerlich zerrissen, aber – wie schade und langweilig! – er kann sich mit keinem mehr streiten.

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